Nüscht, rein gar nüscht. Ich nähere mich Gatow von der B2. Die liegt genau auf der Grenze zu Brandenburg. Der Fußweg daneben ist Teil des Mauerweges. Sonst nur Rieselfelder, soweit das Auge blickt. Hier landete einst der Rest der Kläranlagen Berlins und versickerte im märkischen Sand. Das ist gottlob heute nicht mehr erlaubt. Aber ob sich der Boden von der schweren Schädigung mit Schwermetallen bereits wieder erholt hat, ist nicht geklärt. Nach einer ganzen Weile Fußmarsch ein entferntes Geräusch. Wie sich erst später herausstellt, lädt die Friedhofsglocke zum Begräbnis ein. Der Friedhof ist sehr großzügig angelegt. Da könnte ganz Gatow auf einmal wegsterben – und es wäre immer noch Platz. Wobei der Fall gar nicht so unwahrscheinlich ist – der Altersdurchschnitt im Ort ist beträchtlich hoch. In Gatow leben (noch) knapp fünftausend Menschen, verteilt auf zehn Quadratkilometer Fläche. Da muss man erst mal einen finden! Außer dem Friedhof gibt es nur noch das Cafe Montalis, welches sich für Feierlichkeiten aller Art anbietet. Aber mal ehrlich: würdet Ihr Eure Hochzeit direkt neben dem Friedhof feiern?
Also weiter über den Mauerweg durch Felder und Wälder bis zum Außenweg. Der trägt seinen Namen zu Recht. Er ist nämlich die Außengrenze zum Nachbarort Kladow. Tatsächlich kommt nach kurzer Zeit eine Ansammlung kleiner Häuser, die Siedlung Habichtswald. Gebaut für Menschen, die wohl früher auf dem nahegelegenen britischen Militärflughafen Gatow gearbeitet haben. Eher niedere Ränge, die Häuser sehen bescheiden aus. Eine Ringstraße heißt Fliegerhorstsiedlung. Wer hier heute lebt, weiß ich nicht. Der Flughafen ist seit Jahren geschlossen. Wie so viele andere auch. Berlin hat mehr geschlossene Flughäfen, als andere Weltstädte funktionierende. Irgendwann kommen Tegel und Schönefeld noch dazu. Irgendwann, aber dann bin ich mit meinem Projekt wahrscheinlich schon fertig.
Was man durch den Zaun des Flughafens sehen kann, sieht noch ganz ordentlich aus. Immerhin musste hier früher die Königin von England hinfliegen, wenn sie Berlin besuchte – aus Prestigegründen. Tempelhof in der Stadtmitte gehörte den Amerikanern, Tegel den Franzosen und Schönefeld den Russen. Also musste die Queen im Anflug über die Rieselfelder landen und mitten in der Pampa das Flugzeug verlassen. Sicherlich kein grandioser Anblick, vom Geruch ganz zu schweigen.
War das jetzt Gatow? Mehrere Handvoll Häuser mitten im Wald und sonst nichts? Das kann nicht sein. Zumindest ist die Straße keine Sackgasse. Außerdem mussten die früheren Flughafenarbeiter irgendwie nach Westberlin gelangen. Die Bundesstraße 2 war zu Zeiten der deutschen Teilung Sperrgebiet. Also geht es weiter durch den Wald, dann wieder über Felder. Am Horizont ist eine Bauernhaus zu sehen. Ein paar Schafe und Ziegen. Es ist der Vierfelderhof, geöffnet für Familien und Kinder. Die sollen wohl erlernen, wie Tiere auf dem Bauernhof wirklich aussehen. Heute ist allerdings Schlachtfest. Ob das die Kinder wohl mögen? Auf der Straße eine Bushaltestelle, aber der Bus fährt nur gegen sieben Uhr morgens und am späten Nachmittag. Wir sind in Berlin, der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.
Jetzt bin ich schon zehn Kilometer gewandert. Was ich gesehen habe, habe ich im Detail beschrieben, ohne auch nur eine Kleinigkeit auszulassen. Wo ist Gatow? Morgen geht es weiter. So schnell gebe ich nicht auf.
Heute ist ein neuer Tag. Die Sonne scheint, ein eisiger Nord- oder Ostwind pfeift durch Berlin. Da heißt es etwas schneller gehen. Es ist Februar, die Vögel singen unerträglich laut. Dem langen Flug über die Alpen und den Gefahren der italienischen Vogelnetze müssen sie sich dank der Erderwärmung nicht mehr aussetzen. Wieder stirbt ein ganzer Berufszweig durch den Klimawandel aus: Vogelfänger. Und die Italiener müssen auf eine Delikatesse verzichten.
Kaum am Ortsschild von Gatow vorbei, wird mein Vorurteil noch einmal verstärkt. Da preist ein Beschlagdoktor seine Dienste an. Aber ich irre mich. Das ist kein modisch klingender Name für einen Hufschmied. Der „Doktor“ ist zuständig für Fenster und Türen. Ein paar Meter weiter jedoch ein Hinweisschild zum nächsten Bauernhof. Frische Milch wird dort angeboten. Gleich danach ein knallbuntes Bild auf einer Scheune. Sind das die berühmten Füchse, die sich in Gatow „Gute Nacht“ sagen?
Endlich nach etwa einem Kilometer die erste kleine Ansammlung von Häusern auf beiden Seiten der Straße. Viel los ist nicht. Einige Berliner wohnen nur im Sommer hier. Der Winterstreudienst auf dem Bürgersteig wird von einem Dienstleister durchgeführt. Schilder am Zaun weisen darauf hin. Praktisch für Einbrecher. Mit den Straßennamen nimmt man es hier nicht so genau. Wohnt man „Im Havelblick“, so wird man von der Havel nichts sehen. Man kann nur dahin blicken, wo die Havel vermutlich fließt. Da steht das Haus des Nachbarn. Und „Am Havelufer“ würde man auch nur bei Hochwasser wohnen. Bei extremem Hochwasser, so 10 Meter über normal. In diesem Teil von Gatow gibt es die einzige Sehenswürdigkeit. Aber das Besondere daran ist, dass man sie gar nicht richtig sehen kann. Daher kann ich sie auch nur ansatzweise zeigen.
Es ist die Villa Lemm, die auf einem vierundzwanzigtausend Quadratmeter großen Grundstück steht, in den neunzehnhundertzwanziger Jahren gebaut wurde eine bewegte Geschichte hinter sich hat und für den Publikumsverkehr verschlossen bleibt. Es lohnt sich, die zu gegebener Zeit zu erzählen. Und das werde ich auch tun.
Am Ende dieses Abschnitts hat sich die Feuerwehr ein supermodernes Haus gebaut mit einem Berliner Bären in Feuerwehruniform davor. Das sieht deutlich schicker aus als das alte, das man stehen ließ, weil sonst nicht mehr viel Altes in Alt-Gatow zu finden ist.
Wenn man jetzt noch etwas weiter geht, erreicht man den Ortsteil Alt-Gatow, in dem leider fast alles der Abrissbirne zum Opfer fiel. Nicht so die Dorfkirche, die man auf dem obersten Foto sieht, sowie eine Windmühle, die etwas verloren in einem kleinen Park auf einer Anhöhe steht.
Und dann gibt es noch den alten Dorfkrug. Der hat sich aber den Zeitläuften angepasst und serviert jetzt Sushi.
Nach nur kurzer Zeit bin ich wieder dort, wo ich am Vortag aufgehört habe und der Meinung, Gatow sei nun erledigt. Auf meinem Straßenverzeichnis waren aber noch über zwanzig Straßen nicht abgehakt. Weit und breit keine weiteren Häuser zu sehen. Ich frage eine Einheimische. Die wollte mal wieder wissen, was ich hier so treibe. Sie beobachte mich schon eine Weile und hätte mich vor einer halben Stunde ganz woanders mit meiner grünen Mappe gesehen. Als ich es ihr verrate, hat sie so einen enttäuschten Gesichtsausdruck. Es gäbe noch einen weiteren Ortsteil, den man aber von hier nicht sehen könne. Auf dem Weg nach Kladow. Ob ich mit dem Auto da sei, will die Frau wissen. Als ich verneine, verändert sich die Enttäuschung in Mitleid in ihrem Gesicht. „Na ja, immer geradeaus, bis Sie halt wieder Häuser sehen“. Dann dreht sie sich um und lässt mich allein mit meinem Elend. Also geht es weiter, bis wieder Häuser auftauchen. Das scheint endlos zu sein nach bereits vierzehn gelaufenen Kilometern.
Bei weniger als fünftausend Einwohnern fallen auf jeden von denen in Gatow statistisch etwa zweitausend Quadratmeter. Aber leider entspricht das nicht der Wirklichkeit. Es gibt riesige Freiflächen und auf dem Rest leben die Menschen genauso dicht beieinander, wie auch sonst, wo der Baugrund teuer ist. Aber dieser letzte Ortsteil ist eine Überraschung. Er ist in den Wald nahe der Havel gebaut. Viele alte Bäume stehen noch – uralte Eichen und hohe Fichten. Es gibt nur wenige Mehrfamilienhäuser. Die Architekten durften größtenteils ihren guten Geschmack entfalten. Es gibt eine wunderschöne Mischung aus altem und neuem Hausbestand und eine unendliche Vielzahl verschiedener Bauweisen. Die Infrastruktur wurde vernachlässigt. Daher gibt es keine Tankstellen, keine hässlichen Supermärkte, keine Baumärkte und auch keine langweiligen öffentlichen Gebäude und nur vereinzelte Restaurants nahe der Havel oder im Wald. Rund- trifft auf Sattel- trifft auf Flach- oder Reetdach. Ein Dach ragt auf der einen Seite senkrecht in die Höhe, um auf der anderen Seite sacht abzufallen. Andere sind so vieleckig, dass man die Übersicht verliert. Giebel sind rund oder mehreckig, haben Erker und Ausgucke. Ziegel, Holz, Glas oder Beton wechseln einander ab. Es macht Spaß, durch diesen Ortsteil zu laufen. Ein wunderbarer Abschluss, bevor ich den Bus zurück nach Berlin nehme, obwohl ich ja eigentlich Berlin gar nicht verlassen habe.
Was kann ich empfehlen?
Kommt auf alle Fälle im Sommer nach Gatow, wenn die Felder grün sind und die Havel zum Baden einlädt. Ein Spaziergang entlang des Flusses auf dem „Wanderweg Westliches Havelufer“ nach Kladow ist erholsam. Wenn man mal für einen Tag der Hektik der Großstadt entgehen will, die Seele baumeln lassen möchte und sich dabei entschleunigt, ist man in Gatow absolut richtig.
Lieber Siegfried, es hat wieder Spaß gemacht, Dir auf Deinen Pfaden zu folgen!
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Liebe Herma, der Pfade sind immer noch viele. Also gibt es auch noch viele weitere Stadtteilgeschichten, insgesamt 76.
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