Ja, das ist wirklich gemein, schmutzig und infam, wenn man als Titelbild für diese Geschichte die Justizhaftanstalt in Charlottenburg-Nord zeigt. Als ob das typisch für diesen Stadtteil wäre. Ist es aber, da sie nicht einmal das einzige Haftgebäude ist. Gleich gegenüber liegt die Jugendstrafanstalt. Die ist aber nicht so fotogen. Hat dafür aber ein witziges Schild an der Wand hängen, das so aussieht:
Wahrscheinlich von derselben Werbeagentur, die schon die Imagekampagne für die U-Bahnlinie 55 verkackt hat. Es ist jedenfalls die gleiche Art von Humor, dieses Mal allerdings nicht gereimt.
Charlottenburg-Nord ist wohl ein bevorzugter Ort für Gefängnisse zu allen Zeiten gewesen, etwas außerhalb der Stadtmitte, nicht so leicht zu erreichen und von keinerlei Interesse. Als man um 1870 das erste Gefängnis plante, war die Gegend leicht sumpfig, nicht geeignet für den Hausbau und damit völlig unattraktiv.
Später haben die Nazis in der heutigen Gedenkstätte Plötzensee ihre politischen Gefangenen umgebracht. Als gegen Ende des Krieges die Zahl der Häftlinge drastisch zunahm, das Fallbeil in der Hinrichtungsstätte aber durch Bombeneinschlag stark beschädigt wurde, gab man dem politischen Druck nach. Die politischen Häftlinge wurden kurzer Hand zu fünft gleichzeitig erhängt und schnell weggeschafft, damit sofort die nächsten Exekutionen durchgeführt werden konnten. Noch heute sind die Haken in der Wand zu sehen, an denen die Widersacher Hitlers aufgeknüpft wurden. Insgesamt starben hier über dreitausend Männer und Frauen. Dabei ging es in vielen Fällen gar nicht um Widerstand, sondern um geringfügige Rechtsvergehen, bei denen ein durch und durch geschwächtes System seine Stärke demonstrieren wollte. Oftmals verursacht durch anonyme Anzeigen von Nachbarn oder vermeintlichen Freunden.
Charlottenburg-Nord gibt es erst seit 2004. Den Charlottenburgern kam die Abspaltung bestimmt gelegen. Denn dieser Stadtteil ist das komplette Gegenteil des reichen, gutbürgerlichen Namensgebers. Mit dem wohl hässlichsten Platz und dem dazugehörigen U-Bahnhof. Die Rede ist vom Jakob-Kaiser-Platz, der dem gleichnamigen Widerstandskämpfer gewidmet wurde. Der hat die Namensänderung des ehemaligen Siemensplatzes glücklicher Weise nicht mehr erlebt.
Der Stadtteil wird gleich zweimal geteilt. In Nord-Süd-Richtung durchschneidet die A111 die Wohngebiete, in West-Ost-Richtung ist es die A100. Dadurch entstanden drei völlig unterschiedliche Identitäten. Um den S-Bahnhof Jungfernheide wird man an das charmante Charlottenburg mit seiner fast durchgängigen Bauweise erinnert. Sogar der Schlosspark auf der anderen Seite der Spree ist von hier zu sehen. Die macht nach kurzer Berührung mit dem Stadtteil einen scharfen Knick und fließt lieber weiter nach Charlottenburg. Geradeaus verläuft jetzt neben der A100 der Westhafenkanal, eine doppelte Trennlinie zu dem in den 1960er Jahren entstandenen Neubaugebiet. Die Bauweise entspricht dem Geschmack der Zeit, ist schlicht und nicht ergreifend, ermöglichte es aber, schnell die akute Wohnungsnot zu lindern.
Der Rest zwischen A111, A100, Spandauer Schifffahrtskanal und Westhafenkanal sind Industrieanlagen, Haftanstalten und Kleingartenanlagen. Wobei es sich nicht um kleine, sondern teilweise riesige Gärten handelt, auf die mancher Grundstücksbesitzer stolz wäre. So findet man da auch tatsächlich feste Häuser mittendrin. In Berlin heißen diese Ansammlungen von mit Gemüse und Blumen bepflanzten Großflächen daher auch nicht Kleingärten, sondern Kolonien. Mit wehmütigem Blick auf die Kaiserzeit, wo wir Deutschen noch in fremden Ländern den Völkern ihr Land wegnehmen durften und es auch verteidigten. Damals mit mäßigem Erfolg. Heute sieht das anders aus. Die deutsche Fahne flattert überall, Zäune wie Verteidigungslinien, und Kampfhunde sind ausdrücklich erlaubt. Allerdings nur angeleint. Dazu eine Ordnung, die es in sich hat. Die Mittagsruhe ist heilig, Radfahren unerwünscht. Alles Weitere wird im Vereinshaus geregelt.
Berlin hat mehr als tausendsechshundert Kolonien. Davon hätte der Kaiser nur träumen können. Die meisten scheinen in Charlottenburg-Nord zu liegen. Tatsächlich sind es nur etwa einhundert. Was wollen uns die Namen sagen? Nomen est Omen – oder etwa doch nicht? Abendruh, Bleibtreu, Einigkeit, Gemütlichkeit, Heidefreiheit, Jungbrunnen, Heimat, Neue Hoffnung, Frischer Wind, Sonntagsfrieden, Zukunft. So oder ähnlich heißen viele. Aber mit der Zukunft ist es so eine Sache. Wie lange wird sich Berlin diesen Luxus noch leisten können? Wieder gibt es keinen bezahlbaren Wohnraum in der Stadt. Nach den Marktgesetzen hilft nur die Vermehrung des Angebotes. Aber es gibt nicht mehr viele Freiflächen in der Stadt. Die Kolonialisten fürchten um ihre Siedlungen und den wankelmütigen Senat, der auf das Angebot von Immobilienhaien eingehen könnte. Also warnt man an jedem Zaun und ruft zu Abstimmungen auf.
Wenn wir jetzt auf die andere Seite der A111 gehen, was nicht einfach ist, (es gibt nur wenige Brücken) kommen wir in den ältesten Teil von Charlottenberg-Nord. Hier finden wir zum einen den ausgedehnten Kiefernforst Jungfernheide mit schönen Waldwegen, einem Kletterpfad und dem Waldschwimmbad. Zum anderen sind dort die Wohnhäuser, die Siemens für seine Arbeiter in den dreißiger Jahren baute. Fast alle stehen unter Denkmalschutz und sind großzügig gebaut mit viel Grün dazwischen, auf dem sich die Hasen tummeln.
Zum Schluss bin ich versöhnt mit Charlottenburg-Nord.