Der Tag fängt gut an. Vom Alexanderplatz fährt die S-Bahn direkt nach Köpenick. Also normalerweise. Heute ist nicht normal. Heute ist SEV ab Ostkreuz. SEV ist normal in Berlin und steht für Schienenersatzverkehr. Das passiert, wenn die Fahrdienstleiter alle krank sind, Bäume umfallen, Schienen gestohlen wurden, alle Züge auf der Strecke repariert werden müssen, oder aus tausend anderen Gründen. Also täglich. Heute von Ostkreuz bis Köpenick wegen Gleisbauarbeiten. Die Ersatzbushaltestelle ist in der Nähe des Bahnhofs und ausnahmsweise leicht zu finden, und der Bus ist auch gleich da. Wie so eine ganze gut besetzte S-Bahn da hinein passen soll, ist zunächst fraglich, aber es geht. Irgendwie. Natürlich hat der Bus keine Klimaanlage bei 38 Grad Außentemperatur im Schatten. Die neuen Busse sind im Linienverkehr eingesetzt. Das hier ist SEV, da nimmt man die alten, eigentlich schon ausgemusterten Fahrzeuge. Die Sonne prallt direkt aufs Dach und heizt den Innenraum ordentlich auf. Aber dennoch überstehen alle Fahrgäste das Abenteuer mehr oder weniger gut. Mittlerweile ist es Mittag geworden. Zwanzig Kilometer Weg liegen vor mir. Die Temperatur nähert sich ihrem Tageshoch.
Es geht eigentlich immer geradeaus über die Bahnhofstraße zum Köpenicker Schloss. Aber Google Maps hat heute eine andere Idee und zeigt mir noch ein wenig mehr von der Stadt.
Man muss alles positiv sehen. Da habe ich jetzt schon 10 Straßen mehr gewandert als geplant. Schließlich erreiche ich die Altstadt mit Rathaus und dem berühmten Hauptmann davor. Das ist jetzt aber eine Geschichte, an der ich mich nicht versuchen werde. Das haben Zuckmayer und Heinz Rühmann schon bestens erledigt. Also muss eine kurze Umarmung genügen.
Das Schloss kann ich jetzt schon erahnen. Google hat mal wieder eine andere Idee, aber zu Scherzen bin ich nicht bereit. Auf Google falle ich nicht noch mal rein. Ich gehe geradeaus. Können Programme sich eigentlich ärgern? Der merkt doch, dass ich ihn nicht ernst nehme.
Geht man über die Brücke, so liegt das Schloss gleich auf der rechten Seite. Es ist sehr niedlich, mehr ein Schlösschen. Mein Blick fällt auch auf das etwas größere Gebäude links. Das ist die Schlosskneipe mit Biergarten. Kein Wunder bei meinem Durst. Leider ist sie heute wegen einer privaten Feier für den Publikumsverkehr geschlossen. Also schaue ich mir den Schlossgarten an und mache ein paar Fotos.
Schloss Köpenick liegt auf einer Halbinsel und ist damit auf drei Seiten vom Wasser umgeben. Köpenick selbst ist sogar komplett vom Wasser umzingelt. Wenn man einmal mit dem Boot um den Ortsteil schippert, ist man gut drei Stunden unterwegs. Jetzt ahne ich, was auf mich zukommt.
Am Anfang der Wanderung zum Müggelsee bin ich noch optimistisch. Da steht ein Schild, das die Entfernung mit vier Komma sechs Kilometern angibt. Aber erstens ist das bis zur Spitze, ich möchte aber an das Ende. Der Müggelsee ist der größte See Berlins. Und zweitens kennt das Schild Google Maps nicht, oder umgekehrt. Oder Google rächt sich jetzt dafür, dass ich seine Anweisungen vorher nicht befolgt habe. Jedenfalls schickt es mich noch eine Weile durch putzige Gässchen, die aber sehr fotogen sind. Weshalb ich ihm dieses Mal verzeihe.
Schließlich kann ich aber zunächst auf seine weiteren Anweisungen verzichten, da plötzlich am Waldrand eine Horde von Badelustigen wandert, die wohl alle als Erste den besten Platz am Seeufer erreichen wollen. Das ist wohl vergeblich, denn es ist bereits gegen zwei Uhr nachmittags. Plötzlich, nach einer guten halben Stunde Fußweg biegen alle nach links ab, wo schon hunderte Familien sich einen kleinen Platz am Seeufer teilen. Mich erinnert die Szene an Kalifornien am Pazifik, wo ich sah, wie sich eine Horde von See-Elefanten mit Gebrüll am Strand verzweifelt um ihren Platz stritt.
Ich selbst bin etwas enttäuscht. Den Müggelsee hatte ich mir doch etwas größer vorgestellt. Bis zum anderen Ufer sind es gerade mal dreißig Meter. Aber Google hatte mich gewarnt vor den eiligen Badegästen. „Nach hundert Metern rechts abbiegen“, und nicht nach links. Wie alle diese Sonnenbrandhungrigen.
Also gut. Es geht weiter. Tatsächlich kann ich dann nach einer viertel Stunde durch das Schilf ein ausladendes Gewässer erkennen.
Was mir vorher als der Müggelsee erschien, war in Wirklichkeit die Müggelspree, also der Ausfluss der Spree aus dem Müggelsee. Jetzt geht es erst richtig los, denn mein Ziel sind das andere Ende des Sees und der Kleine Müggelsee. Wie weit wird das noch sein? Bestimmt sehr weit. Aber ich werde belohnt. Es geht immer entlang des Sees auf einem schattigen Waldweg. Es ist mittlerweile einzigartig still, denn ich bin plötzlich ganz alleine. Wenn man es realisiert, ist es zunächst erschreckend, dass man keine Umgebungsgeräusche wahrnimmt. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran und hört doch eine Menge. Die eigenen Schritte auf dem Sandboden. Meine Plastikwasserflasche scheuert im Rucksack gegen einen harten Gegenstand und quietscht leise vor sich hin. Eicheln prasseln unentwegt auf den Waldboden. Ich setze besser wieder meinen Hut auf. Was passiert, wenn eine Eichel aus zwanzig Metern Höhe auf meinen Kopf trifft? Ich will es nicht ausprobieren. Ein paar Wasservögel zanken sich. Die Vögel im Wald haben sich wohl bereits am frühen Morgen ausgezwitschert. Auf der anderen Seite des Sees fährt ein Motorrad. Ein paar seichte Wellen schlagen an den Strand. Ein paar Jugendliche zelten Seeufer. Deutsche Rockmusik ertönt. Das ist schade, denn man versteht den Text. Aber es geht wieder schnell vorbei.
Das könnte ewig so weitergehen. Aber ein Restaurant kündigt sich an. Da kommen ein paar Ausflügler entgegen, die einen kurzen Verdauungsspaziergang unternehmen. Und Radfahrer auf dem Fußweg. Obwohl parallel dazu der sauber asphaltierte Radweg verläuft. In Berlin gehören den Radfahrern alle Wege. Selbst die, die schlecht zu befahren sind. Es ist nicht mehr weit bis zum Restaurant Rübezahl, wo die Spezialität gebackener Fisch mit Gurken-Kartoffelsalat ist.
Ich habe mächtig Hunger und Durst und mache eine Pause bei einem schönen Ausblick auf den See und wundere mich, wo plötzlich all die vielen Menschen herkommen. Mit der Müggelseefähre natürlich.
Nach meiner Schätzung liegt jetzt noch der halbe Weg vor mir. Eigentlich ist es ganz einfach, denn der Weg führt immer am See entlang. Zur Sicherheit frage ich noch einmal Google. Der bestätigt die Länge. Allerdings schlägt er eine Route vor, die mal rechts und dann wieder links geht und ein bisschen kreuz und quer. Da beschließe ich, die Batterie meines Handys zu schonen und mich auf meine Sinne zu verlassen. Was auch gut ist. Nach ein paar hundert Metern kehrt die Stille wieder ein. Nach einiger Zeit liegt auf der linken Seite das einzige Hotel in postmoderner DDR-Plattenbauweise. Ein völlig abgewirtschafteter Bau, in dem wohl auch nur vereinzelte Gäste Urlaub machen. Jetzt ist es noch etwa eine Stunde, und der Weg ist zu Ende. Neben mir Wasser, vor mir Wasser. Die einzige Möglichkeit des Weiterkommens ist eine Fähre, die alle halbe Stunde entweder nach links oder nach rechts über die Spree fährt. Ich entscheide mich für oder. Das ist eine gute Wahl, denn das ist das nächste Schiff. Und wie der Kapitän sagt: „Links ist gar nüscht und rechts ist nüscht.“. Bestimmt hat er backbord und steuerbord verwendet. Aber das sagt einer, der die Tour jeden Tag mehrmals fährt. Für mich ist es eine Offenbarung. Es geht zum Kleinen Müggelsee mit seinem enorm großen Sandstrand und dann ist die Endstation in einem kleinen Fischerdorf, das nur einen Fischer hat. Den Einzigen, der noch im Müggelsee fängt und seinen Fang frisch räuchert.
Das Beste kommt, wie so oft, jedoch zum Schluss. Ich treffe Marcel Franke, einen jungen Mann, der nur samstags und sonntags im Auftrag der BVG jeweils von neun bis achtzehn Uhr einen Fährbetrieb ans andere Ufer des Seitenkanals durchführt. Das ist mit achtunddreißig Metern Länge die kürzeste Strecke des Unternehmens und wird auch nur mit einem Euro siebzig berechnet. Weil die Strecke so kurz ist, wird gerudert.
Es passen maximal acht Menschen oder weniger an Bord, wenn noch Fahrräder mitgenommen werden. Es gibt einen Fahrplan. Das Boot geht stündlich immer um fünf Minuten nach der vollen Stunde. Aber wenn Fahrgäste auftauchen, fackelt Franke nicht lange und fährt auch außerplanmäßig. Ob er denn davon leben könne, frage ich den jungen Mann. Nur zwei Tage Arbeit im Sommer? Da guckt er mich entrüstet an. Franke ist gelernter Binnenschiffer und fährt an den anderen Tagen die solarbetriebenen Fähren der BVG. Den Fährbetrieb hier hat er vor zwei Jahren zusätzlich von einem Kollegen übernommen, dem das Rudern zu viel wurde. Er findet den Job toll, kommt mit seinen Fahrgästen ins Gespräch und fährt nur bei gutem Wetter. Bei Regen, Blitz und Donner hat er eine Hütte mit kleinem Garten. Von dort kann er bei Sonnenschein auch seine Füße im Wasser baumeln lassen, wenn mal keine Fahrgäste kommen.
Übrigens: Für den Job kann man sich nicht bewerben, wenn man nur gut rudern kann. Ohne Ausbildung zum Schiffsführer geht da gar nichts. Das ist ein regulärer Fährbetrieb. Für jeden Fahrgast sind Sicherheitseinrichtungen vorhanden. Sollte mal jemand über Bord gehen, muss man ihn auch aus Seenot retten können. Dass die BVG hin und wieder überlegt, den Fährbetrieb einzustellen, liegt auf der Hand. Das ist mit Sicherheit die unrentabelste Strecke im ganzen Netz. Aber bisher hat immer die Nostalgie gesiegt. An diesem Tag hätte ich beinahe die Rentabilität gesteigert. Ich habe mich drei Mal übersetzen lassen, weil es solchen Spaß gemacht hat.
Leider hatte ich aber eine Wochenkarte, in der dieser Service bereits enthalten ist.