
Es war ein wundervoller sonniger Tag, als ich „Am Wiesenrain“ in Friedrichshagen versuchte, einen vor mir gehenden Rentner zu überholen. Das war schwerer als gedacht. Denn der alte Mann schlurfte mit seinen Sandalen so zielgenau in der Mitte des ziemlich breiten Bürgersteiges und wedelte mit beiden Armen hektisch umher, um so sein Gleichgewicht zu halten. Damit belegte er die komplette Breite des Gehweges. Also blieb mir nichts anderes übrig, als ihm auf der Straße auszuweichen, damit ich ihn nicht anrempele. Kaum war mir das gelungen und ich wieder auf dem Bürgersteig, hörte ich ihn hinter mir „Hallo“ rufen. Das konnte kaum mir gelten, da er mich nicht kannte. Der Mann war aber hartnäckig und wiederholte seinen Ruf gleich zweimal. Also blickte ich mich zaghaft um. Er bat mich gestenreich zu sich. Schon hatte ich ein schlechtes Gewissen. Denn alte Männer in Berlin, die Jemanden nicht kennen, winken ihn nur dann zu sich, wenn sie ihn auf eine Verfehlung hinweisen wollen. Was hatte ich bloß wieder falsch gemacht? Welche Regel gilt hier, die ich nicht beachtet hatte? Ich blieb etwas auf Distanz.
„Sie haben da so eine grüne Mappe“ fing er an. Was mich sehr irritierte, denn darauf bin ich schon mehrmals angesprochen worden, meistens mit schlimmen Hintergedanken. Aber ich hatte keine Zeit für eine Antwort. „Sie sind bestimmt ein Straßenläufer. Ja, gibt es die denn immer noch?“ kam es wie aus der Pistole geschossen. „Ja, bin ich. Ich laufe alle Straßen Berlins.“
„Wie, alle Straßen? Das ist aber ganz schön viel füreine Person. Na ja, die Verwaltung spart, wo sie kann. Ist ja gut, dass ich Sie getroffen habe. Sehen Sie den Baumstumpf da vor Ihnen? Voriges Jahr haben sie den Baum abgesägt, aber den Stumpf nicht ausgegraben. Jetzt ragt er in den Bürgersteig hinein. Im Winter, wenn Schnee fällt, kann man das gar nicht sehen und sich leicht bei einem Sturz verletzen. Machen Sie mal ein Bild und melden das der Behörde.“
„So ein Läufer bin ich nicht. Ich laufe alle Straßen Berlins. Aber nicht im Auftrag einer Behörde, sondern weil ich darüber im Internet in meinem Blog berichte.“ Ja, dann berichten Sie mal im Internet darüber. Das ist doch lebensgefährlich hier.“ „Ist denn schon mal was passiert?“ „Bisher noch nicht. Es hat ja noch nicht geschneit und wir Anwohner passen alle auf.“ Na, dann ist es für meine Leser wahrscheinlich nicht so aufregend.“
„Aber das ist noch nicht alles. Auf der Bölschestraße sind die Bürgersteige so hoch. Wenn da die Autofahrer parken, können die sich leicht die Reifen beschädigen. Anschließend fahren die schnell auf der Autobahn, dann platzt der Reifen und sie sind vielleicht tot.“ „Fahren Sie Auto ?“ „Nein, schon lange nicht mehr. Aber ich habe schon mit dem Leiter des Ordnungsamtes telefoniert. Wissen Sie, was der mir gesagt hat?“ „Nein, aber Sie erzählen es mir jetzt bestimmt.“ „Der hat gesagt: Wenn Sie wüssten, was hier los ist. Ein Viertel der Belegschaft ist krank, ein Viertel im Urlaub. Was soll ich machen?“
„Da hat er aber untertrieben. Die Hälfte ist krank und ein Viertel im Urlaub.“ „Genau, und das restliche Viertel hockt im Büro und wartet auf den Feierabend. Sie glauben gar nicht, was hier alles schief läuft. Aber keiner macht was. Was ist jetzt? Werden Sie darüber schreiben oder nicht?“
„Ich glaube nicht.“ Na denn noch einen schönen Tag.“ Ihnen auch einen schönen Tag.“
Achtlos gehe ich an dem Baumstumpf vorbei und setze meinen Weg fort. Aals ich abends in meinem Hotel sitze, ärgere ich mich. Da ist mir gerade eine schöne Geschichte durch die Lappen gegangen. Aber was ist die Geschichte wert ohne ein Beweisstück. Also gehe ich am nächsten Tag noch einmal über den Wiesenrain. Tatsächlich ist der Baumstumpf auch noch da, der Rentner allerdings nicht. Jetzt hat er seinen Willen doch noch bekommen. Allerdings vielleicht anders, als er sich das vorgestellt hatte.