
Mohammed arbeitet bei „Moabit hilft“. Dies ist seine Geschichte. Aufgewachsen ist Mohammed in der syrischen Stadt Raqqa, einem Ort in der Nähe der Türkischen Grenze, wo er bereits in jungen Jahren ein kämpferische Aktivist gegen das Regime wurde. Oft musste er sich verstecken, weil er wieder einmal vom Syrischen Geheimdienst gesucht wurde. Im Alter von 18 Jahren verlor er bei einem Bombeneinschlag seine linke Hand, die nur notdürftig behandelt wurde. Mohammed arbeitete als Elektriker. Aber selbst mit einer Hand ging er mit Schmerzen, jedoch unbeirrt seiner Arbeit weiter nach.
Als aber der IS seine Stadt überfiel und dort die Macht übernahm, stand Mohammed zwischen zwei Fronten. Denn dem radikalen Islam wollte er sich als junger Mann auf keinen Fall anschließen. Die einzige Rettung aus diesem Dilemma war die Flucht aus Syrien. Das war schwerer getan als gedacht. Denn alle Ausfallstraßen aus Raqqa waren streng bewacht, und sein Foto hing dort überall. Mohammed versteckte sich 10 Tage lang im Wald, wo seine Freunde und Verwandten ihm des nachts Speisen und Getränke brachten. Schließlich bereiteten sie die Flucht vor und steckten Mohammed in Frauenkleider. Es hieß, dass die ISIS-Truppen Frauen nicht untersuchten. Tatsächlich gelang es ihm so, bis an die Grenze der Türkei zu kommen.
Allerdings ließen die türkischen Grenzbeamten ihn nicht durch und schickten ihn wieder nach Syrien zurück. Mohammed versuchte es noch einmal, jetzt an einem weniger bewachten Gebiet, wo man sich in einem Graben verstecken konnte, um dann so schnell wie möglich auf türkisches Gebiet zu kommen. Das gelang. Mohammed hoffte auf eine Arbeitserlaubnis, um sein weiteres Leben zu finanzieren. Die wurde aber nicht erteilt. Also bat er seine Eltern um Hilfe, die das auch spontan taten.
Mohammed benötigte einen türkischen Ausweis, um ärztliche Hilfe zu erhalten. Er wollte sich eine Prothese für seine fehlende Hand anfertigen lassen. Das wurde bewilligt und im Krankenhaus erledigt. Mohammed wunderte sich über die vielen ISIS-Kämpfer, welche im gleichen Krankenhaus behandelt wurden, obwohl die Türkei doch immer behauptete, der erbitterteste Feind des IS Terrors zu sein.
Zunächst freute sich Mohammed über seine Prothese, ließ sie ihn doch mehr oder weniger wie ein kompletter Mensch aussehen. Allerdings wurden die Schmerzen in seinem Arm nach sechs Monaten so stark, dass er sie wieder entfernen lassen musste.
Die ganze Zeit konnte er bei Freunden leben, aber wegen der fehlenden Arbeitsmöglichkeit beschloss er, zusammen mit einem Freund, die Flucht aus der Türkei. Wieder schickten ihm seine Eltern Geld, damit er die dafür notwendigen Barmittel zur Verfügung hatte. Mohammed reiste mit seinem Freund nach Izmir, wo sie mit 18 anderen Flüchtenden ein Schlauchboot kauften, um damit über das Mittelmeer zu entkommen. Breits zwanzig Minuten nach der Abfahrt wurden sie aber von der türkischen Grenzwache gekapert. Das Schlauchboot wurde konfisziert, sie selbst wieder nach Izmir zurückgebracht.
Es war noch Geld übrig. Also kaufte man ein neues Schlauchboot und suchte eine bessere Passage. Dieses Mal sollte es auf eine kleine griechische Insel gehen, die man in weniger als einer halben Stunde erreichen konnte. Das Abenteuer gelang. Unbehelligt strandete man an der Insel. Die griechischen Polizei übergab ihnen Durchreisepapiere nach Mazedonien. Innerhalb kürzester Zeit mussten sie Griechenland wieder verlassen. Es ging zunächst mit dem Schiff nach Athen und danach mit dem Zug nach Thessaloniki. Von dort war es nur noch ein etwa längerer Fußmarsch bis zur mazedonischen Grenze. Niemandem war klar, wo die Reise enden sollte. Eigentlich sollte es nach Österreich gehen.
Der Fußmarsch zur Grenze dauerte etwa einen Tag. Dort gab es aber kein Durchkommen. Beim ersten Versuch des Grenzübertritts wurden alle umgehend nach Thessaloniki zurück geschickt. Auch der zweite Versuch endete nach fünfzig Kilometern hinter der Grenze. Beim dritten Versuch gelangte man bis etwa fünfzig Kilometer vor Skopje, als man von bewaffneten Mafiabanden in Polizeiuniformen aufgehalten wurde. Die verlangten das komplette Bargeld und die Handys.
Trotzdem lief man weiter und wurde kurze Zeit später von der mazedonischen Polizei aufgehalten. Die fragten nach Papieren, die man nicht hatte. Schließlich drohten sie, alle wieder nach Griechenland zu transportieren und setzten sie auf den LKW. Aber einer der Geflüchteten, der sein Handy gut versteckt hatte, konnte sehen, dass der LKW nicht in die Richtung Griechenland fuhr. Tatsächlich fuhren sie in die Richtung, die sie selber auch einschlagen wollten. An der serbischen Grenze wurden sie ausgesetzt. Dort wartete schon die nächste Mafiabande auf sie, für die sich aber der Überfall nicht mehr lohnte. Im nächsten Dorf erhielten sie wieder Durchreisepapiere. Inzwischen hatte sich die Gruppe getrennt. Nur Mohammed und sein Freund waren noch zusammen unterwegs. Sie erwischten einen Zug nach Belgrad und fuhren schwarz, da sie so gut wie kein Geld mehr hatten. Bei der Fahrkartenkontrolle drohte der Kontrolleur, sie aus dem Zug zu werfen. Das war aber nicht möglich, denn der hielt erst wieder in Belgrad, wohin sie ohnehin wollten.
In Belgrad bat Mohammed seine Eltern erneut um Geld, das ihn postwendend erreichte. Jetzt konnte man Fahrkarten bis an die ungarische Grenze kaufen. Dort wartete man die Nacht ab, und schlich sich in das nächste, etwa zehn Stunden entfernte Dorf. Bei der Polizei eröffnete man ihnen, dass eine Weiterreise nur möglich sei, wenn man ihre Fingerabdrücke nimmt. Unter den Flüchtenden hatte sich bereits herumgesprochen, dass diese Tatsache in einigen EU-Ländern zur umgehenden Ausweisung in das betreffende Land führen könne. Also zögerte man zunächst, aber wegen der Andohung einer fünfzehntägigen Haftstrafe willigte man schließlich ein.
Jetzt stand einer Weiterreise nach Budapest nichts mehr im Wege, wo man fünf Tage in einer Flüchtlingsunterkunft verbrachte. Mohammed sagt, dass diese Tage die schlimmsten auf der gesamten Odyssee waren. Nie wieder sei er so schlecht behandelt worden. Schließlich treffen die beiden Freunde einen Mann, der ihnen einen Polizisten besorgt. Der schmuggelt sie Beide für zweihundert Euro über die Grenze nach Österreich und liefert sie in Wien ab. Alles läuft reibungslos. Aber in Österreich dürfen sie sich wegen der Fingerabdrücke auf keinen Fall melden. Also kaufen sie ein Busticket nach München und kommen dort unbehelligt an.
Wieder hat Mohammed eine Kontaktadresse in München. Es wird ihm empfohlen, nach Berlin zu reisen und sich dort als Flüchtling registrieren zu lassen. Also nimmt er wieder den Bus, dieses Mal alleine. Als er in Berlin ankommt, tage- wochenlang unterwegs, immer in denselben Kleidern, wenig geduscht, in einer fremden Welt, die er nicht versteht, fühlt er nicht, dass er angekommen ist. Er schaut sich auf dem Busbahnhof um und entdeckt einen arabisch aussehenden gut gekleideten Mann. Den fragt er auf arabisch, ob er ihm helfen kann. Er habe eine arabisch geschriebene Kontaktadresse in Berlin, kann aber keine Fremdsprache, um mit einem Taxifahrer zu kommunizieren. Er hat großes Glück.
Der Mann lässt ihn in diesem Aufzug nicht zu seinen Freunden. „Du musst Dich duschen, du brauchst neue Kleidung und Du musst essen und trinken. Dann lasse ich Dich zu Deinen Freunden.“ Es ist ein Mann, der die Regeln des Koran befolgt. Danach muss man, wenn jemand Hilfe braucht, die Hilfe auch sofort gewähren, bedingungslos. Erst nach drei Tagen darf man Fragen stellen. Aber solange braucht er gar nicht. Der Mann wohnt in einem Hotel in der Nähe. Mohammed kann duschen. In der Zwischenzeit der Mann ein paar Kleidungsstücke gefunden. Danach geht es ins Restaurant. Erst nach dem Essen wird ein Taxi gerufen, die Freunde werden informiert und Mohammed macht sich auf den Weg. Zwei Tage später helfen ihm seine Bekannten bei der Registrierung, die im Jahre 2015 noch relativ schnell über die Bühne geht. Mohammed hat danach eine Rundreise durch verschiedene Aufnahmelager in Berlin hinter sich, konnte für ein halbes Jahr bei einer Privatperson unterkommen, lebte in einer WG in Wannsee und hat jetzt eine Unterkunft in Charlottenburg. Seine Anerkennung als Flüchtling garantiert ihm das Bleiberecht in Deutschland. Mohammed spricht fließend Deutsch. Ende gut – alles gut? Nicht ganz.
In Syrien arbeitete Mohammed als Elektriker, selbst als er nur noch seine rechte Hand gebrauchen konnte. Mit Mut, großem Willen und Entschlossenheit geht manches. Aber nicht in Deutschland. Hier wird seine Fähigkeit nicht anerkannt. Selbst eine Ausbildungsstelle bietet ihm Niemand an. Auch das Arbeitsamt rät dringend davon ab, in diesem Beruf zu arbeiten, hat aber auch keine anderen Vorschläge. Mohammed ist Handwerker mit Leib und Seele. Ein Bürojob kommt für ihn nicht in Frage. Auch dafür benötigt man Qualifikationsnachweise, die er nicht beibringen kann. Also sitzt er da mit Hartz IV, kann nichts dazu verdienen und bekommt ein kleines Taschengeld für seine Mitarbeit bei Moabit hilft. Dort hilft er anderen Flüchtlingen, die nur Arabisch sprechen.
Mohammed versucht es noch einmal in Deutschland mit einer Prothese. Inzwischen hat er unmenschliche Schmerzen an seinem Armstumpf, die er nur sehr kurz mit starken Medikamenten kurzfristig bekämpfen kann. Manchmal versucht er, sie mit anderen Schmerzen, die er sich selber zufügt, zu überdecken. Drei Narben an seinem Unterarm sind das Ergebnis von Zigaretten, die er dort selbst ausgedrückt hat. Mit der Prothese wird es wieder nichts, die Ärzte sprechen von Phantomschmerzen oder Schmerzen, die im Kopf entstehen, aber nicht real seien. Er stimmt einem Aufenthalt in einer Klinik zu. Sein Trauma bekommt er dort in den Griff, aber die Schmerzen bleiben.
Mohammed ist heute ein fröhlicher Mensch. Aber mit fünfundzwanzig Jahren hat er die gleichen Träume, die alle jungen Menschen haben. Er möchte sein Leben frei bestimmen, Er möchte genug Geld verdienen, um seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Er möchte vielleicht einmal Urlaub außerhalb Berlins machen können. Bescheidene Wünsche, aber völlig unerfüllbar. Wenn es nicht Menschen bei „Moabit hilft“ gäbe, die unermüdlich daran arbeiten, Menschen wie Mohammed eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Und Menschen, die dabei helfen, es umzusetzen.