Baumschulenweg – krumme 8

Wenn man auf den Stadtteil Baumschulenweg von oben sieht, blickt man auf eine verunglückte Acht, die von zwei etwas aus der Form geratenen Nullen gebildet wird. Wo die beiden Nullen auf einem Punkt zusammenstoßen, ist der einzige Überweg von der einen zur anderen Null: die Baumschulenbrücke führt über über den Britzer Verbindungskanal, der eine natürliche Grenze zwischen den Stadtteil- Teilen bildet. Die können nun wirklich nicht unterschiedlicher sein.

Die Evangelische Kirche „Zum Vaterhaus“ ist der zentrale Mittelpunkt der oberen Null. Sie empfängt den Besucher mit dem in Stein gemeißelten Spruch über der Kirchentüre: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“. Im Jahre ihrer Einweihung 1911 war das ein tröstlicher Spruch. Der Zuzug nach Baumschulenweg war enorm, die Bautätigkeit kam dem Bedarf nicht hinterher. Viele Arbeiter in den umliegenden Fabriken in Oberschöneweide suchten Wohnraum, der aber oft unbezahlbar war. Zwar wurden bereits ab 1894 die ersten Reihenbausiedlungen durch private Wohnungsbau-Gesellschaften errichtet, letztendlich aber überwiegend als Einfamilienhäuser verkauft. Das konnten sich die meisten Arbeiter nicht leisten. Erst in den 1920-er Jahren ermöglichten die Reichsbahnsiedlung, sowie weitere Wohnprojekte den Zuzug von mehr Menschen. Allerdings leben auch heute nur knapp zwanzigtausend Menschen in Baumschulenweg, davon etwa die Hälfte in der oberen Null. Wir haben es also eigentlich mit einer Kleinstadt zu tun. So fühlt man sich auch, wenn man durch die Straßen geht. Kleine Geschäfte, ein paar Eckkneipen, die im restlichen Berlin inzwischen aussterben, deutsche Küche und die aus aller Welt. Wer hier unbedingt Sushi speisen möchte, kann das tun. Aber ob er das auch sollte, weiß ich nicht. Ich selbst beurteile das soziale Gefüge und die gastronomischen Angebote immer nach Verfügbarkeit und Leistung der ortsansässigen Cafes. Da schneidet Baumschulenweg bei meiner Bewertung mit drei plus nicht einmal schlecht ab.

Woher kommt der Name, wo es nicht einmal eine Straße gibt, die so heißt? Pate hierfür war Franz Josef Späth, der in dieser Gegend alle Äcker aufkaufte, die ihm angeboten wurden und darauf eine riesige Baumschule errichtete. Die entwickelte sich innerhalb der nächsten Generationen zum weltweit größten Unternehmen dieser Art. Der ehemalige Baumschulenweg führte dorthin. Als jedoch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts der holperige Weg, der zur Baumschule führte, gepflastert wurde, beschloss die Gemeinde, den Weg in „Straße“ umzubenennen. Der Ruhm der Familie nahm 1943 ein jähes Ende, als man dem damaligen Firmenchef vorwarf, Umgang mit Juden zu pflegen und „versteckte Hetz- und Wühlarbeit gegen Deutschland“ zu betreiben. Hellmut Späth wurde zunächst zu einer Haftstrafe verurteilt und danach umgehend in das KZ Sachsenhausen überstellt. Dort verliert sich seine Spur. Vermutlich wurde er am 15. Februar bei einer Massenhinrichtung durch Häftlinge erschossen. Nach Kriegsende ging sein Besitz in Volkseigentum über. Die ehemalige Baumschule verkümmerte. Im Zuge der Wiedervereinigung erhielt die Familie einen Teil ihres Besitzes zurück. Heute gibt es wieder eine Späth´sche Baumschule in der unteren Null, die aber keine Weltbedeutung mehr hat.

Wenn man sich traut, die obere Null zu verlassen, sollte man sich auf einen Kulturschock einstellen. Sobald man die Spree überquert, wechselt man von einer soliden Kleinstadt mit funktionierender Infrastruktur zu einem ländlichen Gebiet mit spießbürgerlichem Gehabe. Zunächst führt der Weg vorbei an mehreren Kleingartenanlagen mit den beschaulichen Namen „Südpol“, „Silberlinde“ oder „Waldesgrund“. Wobei der Waldesgrund erst einmal abgeholzt werden musste, um für diese voluminösen Ansiedlungen Platz zu schaffen. Und „Kleingarten“ hört sich auch recht untertrieben an. Die einzelnen Gärten mögen in den Ausmaßen begrenzt sein, aber die Anzahl ist erschreckend. Hat man sich erst einmal hierhin durchgekämpft, so stößt man an der Kreuzung „Königsheideweg“ auf das Späth-Arboretum, die wohl größte Sehenswürdigkeit des Stadtteils. Hier hat die Familie Späth begonnen, auf einem großen Anwesen, welches ihr Herrschaftshaus umgab, seltene Pflanzen anzubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen sowohl das Herrschaftshaus als auch das Arboretum in den Besitz der Biologischen Fakultät der Humboldt-Universität über. Heute wohnen und lehren hier die Professoren. Der große Garten steht der Allgemeinheit zur Verfügung, allerdings nur zwischen Frühjahr und Spätherbst. Jetzt im Winter kann man nur durch den Zaun bewundern, mit welcher Akribie an wirklich jeder Pflanze Namensschilder angebracht wurden. Selbst dort, wo sie kein Besucher sehen kann.

Wenn man schon nicht in den Garten kann, aber womöglich Hunger verspürt, bietet sich das gegenüber liegende „Zombie Kitchen“ an, wo man verspricht, höllisch feiern zu können. Leider ist aber auch dort geschlossen und der Zustand des Gebäudes lässt vermuten, dass die höllische Feierei ihm nicht bekömmlich war. Jedenfalls sieht es nicht so aus, als ob hier jemals wieder geöffnet wird.

Also lasse ich mich auf ein Wagnis ein, das ich keinem empfehlen würde, der nicht wie ich alle Straßen Berlins wandern will. Ich besichtige das Gelände, welches die Familie Späth nach der Wende zur Bebauung zur Verfügung gestellt hat. Um es zu durchwandern, braucht man einen ganzen Nachmittag, was die pure Zeitverschwendung ist. Architektonisch ist dort der komplette Geschmack des Kleinbürgertums zur Ausführung gekommen. Am Anfang stehen zweigeschossige Doppelhaushälften, die aber auch zu viert, sechst oder jeder anderen geraden Zahl vorkommen. Es ist bald Weihnachten. Da wird es Zeit, die kletternden rot gekleideten Männer wieder herauszuholen, Die versuchen allerorts, über Balkon und Kamin in das Haus einzudringen. (Überall sonst in der Republik sieht man sie nur noch selten, aber hier haben sie Hochsaison.) Oder die aus Bast geflochtenen Rehe aus China unter der Kiefer und die zipfelbemützten Kleinwüchsigen. Und natürlich die pompösen Lichterketten, bei denen jeder den Nachbarn noch ausstechen möchte. Da hat das zuständige Kohlekraftwerk ordentlich zu tun, wenn bei Anbruch der Dunkelheit an allen Häusern gleichzeitig die Außenbeleuchtung angeschaltet wird. Als ob die Klimakatastrophe erst noch käme. Dabei sind heute, am 17. Dezember, mehr als fünfzehn Grad im Schatten.

Dann gibt es natürlich auch die komplett verdichteten Vorgärten mit Abstellplätzen für drei Autos. Der SUV für die Gattin, der Sportwagen für den Hausherrn und das E-Auto für die Tochter wegen des schlechten Gewissens. Natürlich im Freien, damit sie auch jeder auch sehen kann. Aber nicht klauen. Davor schützt ein massiver Zaun. Es gibt zwar auch eine Garage. Aus der ragt jedoch nur ein langes Kabel zum Aufladen des E-Mobils. Zwischen all dem Wahnsinn gibt es dann auch noch einen Schlossherrn. Also jemanden, der sich dafür hält. Seine Villa ziert ein Eingang mit vier massiv aussehenden Säulen, die aber nur ein mickriges Vordach zu tragen haben. Am Giebel ist ein Wappen angebracht. Alles rundherum ist verdichtet und bietet jedwedem Kraut keine Chance, sich zu entfalten.

Am Ende des langen Rundganges ist man natürlich erfreut, wenn ein Restaurant seine gastronomische Kunst anbietet. Der Name passt zu der kompletten Spießigkeit: „Südtirol Stübli“. Es gibt ein Jausenbrot, Südtiroler Bier, Knödel und noch ein paar andere Spezialitäten. Theoretisch. Praktisch aber nur am Dienstag, Mittwoch und Sonntag. Heute ist Montag.

Was kann man in Baumschulenweg sehen, was unternehmen? Neben der Kirche und dem Arboretum sollte man zum Mahnmal von Chris Gueffroy. Das steht auf der gleichnamigen Allee in der Nähe der gleichnamigen Brücke. Chris hat an dieser Stelle versucht, am 5. Februar 1989 durch den Britzer Zweigkanal zu schwimmen und wurde dabei von mehreren Schüssen tödlich getroffen. Er wurde nur zwanzig Jahre alt und war der vorletzte Mauertote und der letzte, welcher durch Schusswaffen getötet wurde. Als er nämlich seine Flucht plante, hatte er von einem Kollegen der Volksarmee erfahren, dass der Schießbefehl ausgesetzt worden war. Das ermutigte ihn, das Risiko einzugehen. In dieser Nacht wies allerdings der Vorgesetzte der vier Wachsoldaten, Siegfried Lorenz, die Grenzsoldaten an, zu schießen. Die Vier wurden für ihr Vorgehen belobigt und erhielten eine Prämie von hundertfünfzig Mark. Später wurden sie von bundesdeutschen Gerichten freigesprochen oder nur zu einer geringen Strafe verurteilt. Lediglich der Todesschütze wurde nach Revision zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die wurde zur Bewährung ausgesetzt. Siegfried Lorenz wurde wegen Beihilfe zum Mord rechtskräftig verurteilt.

Es gibt zwar überall in Berlin unzählige Gedenktafeln für die an der Mauer gefallenen Menschen. Aber nirgendwo sonst ist mir das Grauen des DDR Regimes und seine Unmenschlichkeit so bewusst geworden wie hier.

Zum Schluss noch zwei Empfehlungen von mir. Ein Rundgang über den Friedhof in Baumschulenweg ist zu jeder Zeit eine erholsame Angelegenheit. Ansehen muss man sich auch das neue Krematorium auf der Südostallee 53, welches von den Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank geplant wurde. Architekturfans werden sich an die Namen erinnern. Da war doch noch was? Richtig. Die beiden haben auch das Bundeskanzleramt entworfen. Wer übrigens mit dem Thema Tod gut umgehen kann, kann das Krematorium besuchen, auch wenn es nicht der letzte Gang sein soll. Jeweils am Totensonntag finden öffentliche Veranstaltungen statt.

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