AUA!

Wie alles begann

Aua! habe ich am Sonntagmorgen geschrien. Ich wollte das Hotel wechseln und packte meinen Koffer. Die Schuhe, die auf dem Boden lagen, mussten da noch rein. Nachdem ich sie in meinen Händen hielt, erhob ich mich ziemlich schnell und krachte mit dem Kopf gegen eine offen stehende Schublade. Das war dumm und schmerzhaft. Schuhe und ich lagen am Boden. Ich fasste mit meiner Hand an die schmerzhafte Stelle und betrachtete sie danach. Sie war komplett rot, wie auch der Ärmel meines blauen Pullovers. Mein Kopf schien eine kleine sprudelnde Blutquelle zu sein.

Achtung, sagte ich zu mir. Tue jetzt nichts Unüberlegtes. Es ist Sonntagmorgen. Du willst noch in diesem Jahr wieder zuhause sein. Kein Arzt, kein Krankenhaus. Da hatte ich erst gestern diese Geschichte gelesen. Wer in Berlin das falsche Krankenhaus erwischt, den finden sie viel später in irgendeiner Ecke wieder.

Also versuche ich, alles Blut abzuwischen, lege mir ein Handtuch auf den Kopf und gehe zur Rezeption.

„Ich brauche Hilfe“ sage ich zu dem freundlichen Japaner an der Rezeption. Der sieht mich an, als wäre er er gerade dem Opfer eines Horrorfilms begegnet und verschwindet im Nebenraum. Zum Glück oder Unglück erscheint die Chefin. Die ist als Ersthelferin ausgebildet. Sie drückt mir zwei Mullbinden auf die verwundete Stelle und klebt sie mit Heftpflaster fest. „Sie müssen sofort ins Krankenhaus. Verletzungen am Kopf können lebensgefährlich sein und müssen sofort behandelt werden“. Sie lässt keine Widersprüche zu, schickt mich mit einer Kollegin in mein Zimmer zum Kofferpacken und ruft derweil ein Taxi. Den Notarztwagen konnte ich ihr mit letzter Kraft noch ausreden.

Als wir wieder unten angelangt sind, steht dort auch bereits ein Taxifahrer, allerdings für einen anderen Hotelgast. Die Chefin an der Rezeption ist aber unerbittlich. „Sie nehmen jetzt diesen Gast. Das ist wichtiger. Für den anderen rufe ich ein neues Taxi“. Ich frage noch kurz, wohin es denn geht. „Ins Westend. Die sind gut. Da war ich auch schon. Ist das Unfallkrankenhaus direkt an der Autobahn“. „Okay“ denke ich, „hoffentlich ist so früh noch Niemand verunfallt oder tätlich angegriffen worden“. Es geht los.

Der Taxifahrer ist ziemlich sauer. Er spricht mehr mit sich selbst als mit mir. Aber das kenne ich schon lange aus Berlin. Dass nämlich ältere Männer nur denken können, wenn sie das Gedachte auch hören. „So ein Mist. Das war meine letzte Fahrt. Die habe ich nur angenommen, weil die noch gutes Geld gebracht hätte. Die hier kostet gerade mal zehn Euro. Hätte ich jetzt schon im Bett liegen können. Ich wohne nur um die Ecke. Mein Chef hat Recht. Der sagt immer: „bloß keine Kranken mitnehmen. Die sollen den Krankenwagen rufen. Verletzte bringen nur Probleme.““.

Und so geht es einem fort, bis wir an der Notambulanz ankommen, er die Koffer auslädt und sofort abrauscht. „Für das üppige Trinkgeld hätte er mir die Koffer eigentlich auch in die Ambulanz bringen können“ denke ich so bei mir. Leise. Aber da ist er schon längst über alle Berge.

Im Krankenhaus

Meine Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen. Auf einem Bildschirm sehe ich eine lange Warteliste mit Nummern, die schon seit dem Vorabend dort stehen. Weit und breit niemand zu sehen. Wahrscheinlich rennen die Patienten alle im Krankenhaus herum und suchen einen Arzt. Aber auch sonst ist hier überhaupt niemand. Plötzlich öffnet sich wie durch Zauberhand eine Tür. Es erscheint die Aufnahmeschwester. „Maske auf!“ herrscht sie mich an, als ob mein eventuelles Virus im Bruchteil einer Sekunde durch die Glasscheibe in ihre Nebenhöhlen wandern könnte. Dann kommt aber Bewegung in die Sache. Nachdem ich ihr die Gesundheitskarte einer privaten Versicherung gezeigt habe, muss ich nur noch die Kostenübernahme unterschreiben. Eine Reihe von Aufklebern werden gedruckt, und noch bevor sie mir meine Wartelistennummer überreicht hat, leuchtet bereits der Hinweis auf, dass ich mich in ein bestimmtes Zimmer der Chirurgie begeben solle.

Da ich noch etwas benommen bin, nehme ich ihre Wegbeschreibung nicht komplett wahr. War es nach der ersten Tür rechts die zweite oder dritte Tür rechts oder links oder was? Auf diese Weise sind wahrscheinlich auch die anderen Patienten abhanden gekommen. „Ein perfider Trick, um die Patienten los zu werden“ denke ich. Aber plötzlich steht ein junger Mann mit suchenden Gesicht vor mir. Der sucht mich. Und bringt mich zur Untersuchung. Es stellt sich nach mehreren Übungen und Betrachten der Wunde fest, dass alles halb so schlimm ist. Ich werde gepflastert. Fertig! Als ich schon denke, dass ich gleich wieder draußen bin, kommt die Frage nach meinem Impfausweis. Den habe ich natürlich in Wiesbaden gelassen. „Ob ich in den letzten zehn Jahren gegen Wundstarrkrampf geimpft worden sei? “ „Keine Ahnung“. „Also – wenn nicht, dann müsste das in den nächsten zwei Tagen unbedingt gemacht werden. Sonst wäre das gefährlich.“ „Und wenn ich darüber keinen Nachweis habe?“ wollte ich noch wissen. Aber da ist der Herr Doktor bereits wieder weg. Von seinem Assistenten erfahre ich, dass ich die Spritze hier auf keinen Fall bekäme, Das ist schließlich kein Notfall. Die Spritze erhalten sie bei einem niedergelassenen Arzt.

Jetzt geht es erst richtig los

Am Montag rufe ich meinen Hausarzt in Wiesbaden an. Der kann mir nicht helfen. Ich bin erst seit vier Jahren bei ihm. In der Zeit hat er kein Tetanus gespritzt. Ich solle mir einfach in Berlin eine Spritze geben lassen. Fertig. Wie kommt man in Berlin an einen Arzt, bei dem man noch nie war? Und wann? Und welcher Arzt spritzt Tetanus und hat es vorrätig? Fragen über Fragen und keine Antworten.

Die Gruselgeschichten werden von Mund zu Mund weiter gegeben. Sie sind allesamt wirklich erschreckend. Man möchte sie besser gar nicht hören, wenn man selbst vor dem Problem steht. Ich recherchiere im Internet und gebe ein: Berlin, Allgemeinarzt, Impfen. Es kommt eine lange Liste, die mir nicht wirklich weiter hilft. Ich bin zwar schon viele Straßen gelaufen, aber welcher Arzt sich in meiner näheren Umgebung befindet und wann ich zu ihm kommen kann, erschließt sich daraus nicht. Ich erweitere die Suche um „Termin“. Jetzt wird es deutlicher. Kaum einer der Ärzte hat freie Termine in diesem Jahr. Ich finde jemanden für den 23. Dezember. Da wollte ich allerdings anfangen, den Baum in Wiesbaden zu schmücken.

Ich entschließe mich, einfach einen Arzt aus der Seite in der Nähe herauszupicken und ihn anzurufen. Aber weil die Ärzte genau das vermeiden wollen, steht erst gar keine Telefonnummer bei den Suchergebnissen dabei. Also greife ich zu den Gelben Seiten. Die sind dazu da, dass man Telefonnummern findet. Was aber nützt eine Nummer, wenn man in einer Warteschlange festsitzt oder niemand abhebt? Ich gehe die Liste durch und frage mich, wie ich das Problem lösen kann. Schließlich finde ich einen Arzt ganz in der Nähe, der sich auf Schönheitsoperationen spezialisiert hat. Der entpuppte sich für mich als die erste Wahl. Sicher kann der gut spritzen. Botox oder Tetanus – das macht sicher keinen Unterschied. Zweitens hat er einen sehr schwer auszusprechenden Namen. Das lässt darauf schließen, dass er überwiegend russische oder türkische Frauen als Kundinnen hat. Welche Frau aber lässt sich kurz vor Weihnachten im Gesicht herum operieren, wenn die ganze Verwandtschaft aufkreuzt? Drittens sind die Operationen bestimmt sehr blutig. Da wird wohl Tetanus im Haus sein. Und viertens behandelt der Arzt nur Privatpatienten. Da ist das Wartezimmer bestimmt leer.

Ich fasse mir ein Herz und rufe an. Bereits nach dem zweiten Klingelton meldet sich eine freundliche Frauenstimme. Ich wolle nur eine Spritze. Ob ich die möglichst schnell verabreicht bekommen könne? Und ob Tetanus vorrätig sei? Sie gibt mir einen Termin in dreißig Minuten. Ob ich das schaffe? Na klar schaffe ich das.

Im Empfangszimmer erwartet mich bereits eine junge blonde Dame mit einer ziemlich hohen Stimme. Sie gibt mir einen Zettel, den ich im Wartezimmer ausfüllen und unterschreiben soll. Dort ist niemand, nur ein Ozelot. Also ein Mantel am Garderobenständer. Es dauert nicht lange, und die Besitzerin des Ozelots erscheint. Wie sie ausschaut, hat sie die Operation noch vor sich. Sie schwingt sich in ihren Pelz und verlässt die Praxis ohne Gruß. Ich wünsche ihr beim Herausgehen alles Gute und ein besinnliches Weihnachtsfest. Sie wünscht mir nichts.

Die blonde Sprechstundenhilfe kommt herein und bittet mich, mitzukommen. Jetzt sitze ich wieder im Empfang. Inzwischen hat der Arzt natürlich festgestellt, dass er an einer Impfung so gut wie gar nichts verdienen kann, Das lohnt sich nur im Zusammenhang mit einer gründlichen Untersuchung. Mit den Vorarbeiten ist die Blondine beauftragt. Die fragt mich nach Größe und Gewicht, dem Blutdruck und Vorerkrankungen, bevor sie selbst Hand an mich legt. Man merkt ihr an, dass sie eine völlig andere Vorstellung davon hatte, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Arzthelferin war es sicher nicht. Wahrscheinlich Model oder zumindest Bloggerin. Mit der Bedienung technischer Geräte hat sie ihre liebe Not. Nachdem sie den Blutdruck gemessen hat, schüttelt sie ob des Ergebnisses bedächtig mit dem Kopf. „Da steht aber was ganz anderes, als sie mir gesagt haben. Vielleicht ist das Gerät nicht in Ordnung“. Nimmt es und legt es selbst an. Nachdem sie ihren Blutdruck gemessen hat, kommt sie zu dem Ergebnis, dass er zu hoch sei. „Na, vielleicht vom schnellen Laufen hierhin?“ frage ich. „Ja, das kann sein“ antwortet die Fiepsstimme. Misst noch einmal und ist mit dem Ergebnis zufrieden. Danach wird der Sauerstoff im Blut gemessen. Das Gerät versagt die Anzeige. „Moment, ich versuche es bei mir“. Aber das Gerät bleibt stur. „Och, die Batterien sind bestimmt alle“, schließt sie scharfsinnig und wechselt die Batterien. Aber das Gerät bleibt stur. Der Doktor erscheint. „Die Sauerstoffanzeige funktioniert nicht“ erzählt sie dem Arzt. „Die Batterien müssen gewechselt werden“ antwortet der. „Habe ich schon gemacht“. „Auch richtig rum?“ „Na klar“. Der Arzt öffnet das Gerät, dreht die Batterien um und gibt es ihr zurück. „Och, jetzt funktioniert es“ sagt sie. Ohne rot zu werden. Sie misst den Sauerstoffgehalt und arbeitet die komplette Liste ab, die sie von ihrem Chef erhalten hat.

Der kommt jetzt wieder zu uns und erklärt mir die Vorteile und Nebenwirkungen der Impfung. Gebührenziffer 1a: „Eingehende Beratung“ und schaut sich danach meine Verletzung an. „Sieht schon sehr gut aus“ und macht ein frisches Pflaster drauf. Zwei gibt er mir noch mit, bevor er zur Tat schreitet. Oder besser gesagt: schreiten will. Denn jetzt stellt sich heraus, dass sein Impfstoff für meine Zwecke nicht geeignet ist. „Das ist eine Mehrfachspritze. Die nimmt man nur als Auffrischung. Für Sie brauche ich einen Einfachimpfstoff. Aber den habe ich nicht.“ Als ich etwas verdutzt dreischaue, beruhigt er mich. „Um die Ecke ist eine Apotheke. Die rufe ich jetzt an, und dann sind Sie sofort fertig.“ Die Apotheke habe den Impfstoff vorrätig. Er kann gleich abgeholt werden. Von wem? „Wenn Sie so nett wären und kurz dahin gehen. Dann geht alles ganz schnell. Sie kommen sofort dran“.

Es eskaliert weiter

Also ziehe ich mich an, gehe um die Ecke und stelle mich in die lange Schlange Wartender. „Ich wollte nur den Impfstoff abholen“ sage ich etwas zögerlich. “ „Immer einer nach dem Anderen“, sagt der Apotheker. Im Nebenraum sieht man die Schatten vieler Personen. Aber keine traut sich raus. Als ich an der Reihe bin, ruft er nach einer Kollegin. „Der Herr holt die Spritze für den Doktor“ sagt er zu ihr und bedient den nächsten Kunden. Nach einer Weile erscheint die Kollegin mit einer Packung in der Hand und betrachtet die von allen Seiten kritisch. Dann errötet sie leicht und verschwindet hinter dem Vorhang, von wo sie meinen Arzt anruft. Als sie wieder erscheint, muss sie mir sagen, dass sie eine Kombipackung in Händen hält. Die einzige, die sie noch haben. Aber sie bestelle jetzt das richtige Medikament. Um drei Uhr wäre es da. Ich möge bitte bis dahin einen Kaffee trinken und um drei Uhr wiederkommen. Sie habe das so mit dem Doktor vereinbart. Allerdings nicht mit mir. Jetzt ist es noch nicht elf Uhr. Da kann ich mir mit dem Kaffee viel Zeit lassen. „Falls das Medikament früher da ist, rufe ich Sie sofort an“ verspricht sie. Aber sie sagt nicht „wenn“, sondern „falls“. Als ob sie schon wüsste, dass das auf gar keinen Fall passieren wird.

Natürlich kommt kein Anruf. Ich habe bereits zwei Kaffee getrunken, ein Sandwich gegessen und bin mehrmals um den gleichen Häuserblock gewandert. Damit ich nur ja sofort in der Apotheke bin, wenn der Anruf kommt. Der natürlich nicht kommt. Aber um drei Uhr bin ich pünktlich vor Ort, um mein Medikament abzuholen und mich in einer neuen Schlange einzureihen. Als ich endlich an der Reihe bin, ist das Medikament natürlich noch nicht da. „Der Verkehr in Berlin!“ Aber es kommt eine halbe Stunde später in einer riesigen Lieferung zusammen mit mindestens hundert anderen Verschreibungen. Das dauert natürlich, bis man es nach sorgfältiger mehrmaliger Prüfung endlich gefunden hat. Ich nehme es in Empfang, gehe zu meinem Arzt und habe die Hoffnung aufgegeben, dass er auf mich wartet. Aber er ist noch da, spritzt das Tetanus und die Geschichte ist zu Ende.

Na ja, die Rechnung habe ich bis heute noch nicht erhalten.

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2 Kommentare Gib deinen ab

  1. wolfgang hummerich sagt:

    Lieber Siggi,

    die von Dir beschriebenen Abläufe sind leider pathognomonisch ( das ist der medizinische Fach Begriff für krankheitstypisch bzw -definierend) für das deutsche Gesundheitswesen).
    Ich könnte Dir das jetzt näher erläutern, das tun wir aber mal bei einem Glas Wein.
    Nur soviel schon mal: schuld an dem Dilemma ist weniger “ die Politik“ sondern die Ärzteschaft selber wo jeder mit Gebrüll und Krallen seine eigenen Fleischtöpfe verteidigt.Schliesslich haben wir ja eine ärztliche Selbstverwaltung, das vergessen die meisten Akteure
    leider meistens.

    Liebe Grüße
    Wolfgang

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  2. Burkhard Muschner sagt:

    Wolfgang H., Helmut S. und ich (Burkhard M.) sitzen gerade zusammen und denken an Dich. Wir hoffen, dass es Dir trotz des von Dir beschriebenen Wirrwarr inzwischen wieder gut geht.

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