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Heute muss ich mal auf die Frage antworten, die mir am häufigsten gestellt wird. Viele Menschen möchten wissen, wie ich eine so große Aufgabe anpacke: 12000 Straßen, verteilt auf etwa achthundertsechzig Quadratkilometer, zu bewältigen. Um ehrlich zu sein: am Anfang hat mich das noch wenig beeindruckt. Mir war Berlin bekannt. Da dachte ich mir: „Irgendwie wirst Du das schaffen. Du gehst jetzt einfach mal los, und irgendwann bist Du fertig. In dieser Zeit kam mir der Gedanke, alle 96 Stadtteile Berlins aus meiner Sicht zu beschreiben. Das geht aber auf die oben beschriebene Weise nicht. Da muss man sich wirklich diesem Stadtteil intensiv widmen und darf keine lange Zeit verstreichen lassen, bis man damit fertig ist. Sonst vergisst man vieles von dem, was man erfahren hat und hat keine Chance, die Seele zu erkunden, die Besonderheiten zu entdecken und das Einzigartige zu beschreiben. Also gehe ich jetzt Stadtteil für Stadtteil, bis er komplett erwandert ist und versuche, das Besondere dort zu entdecken. Inzwischen bin ich mit fast dreißig Stadtteilen fertig.
Das ist die eine Art. Aber einmal pro Aufenthalt mache ich eine Ausnahme. Da stelle ich meine Wanderung unter ein Thema und nehme auch gerne Wanderer mit. Wie das abläuft, stelle ich beispielhaft an meiner Tour „Das unbekannte Friedrichshain“ dar. Vielleicht erwecke ich dabei auch das Interesse neuer Mitwanderer, die auf diese Art unsere Hauptstadt mit mir zusammen erkunden wollen.
Zunächst einmal sind meine Wanderungen keine Stadtführungen. Sie verlaufen aber nicht ganz so ungeplant, wie meine anderen Spaziergänge. Während ich mich sonst beim Spazierengehen überraschen lasse, wildfremde Menschen kennenlerne oder auf ungewöhnliche Geschichten stoße, bereite ich diese Wanderungen vor. Dennoch bleibt auch hier immer Raum für Ungewöhnliches. Also – los geht´s.
Wir starten dieses Mal am Ostbahnhof und gehen schnurstracks zu einer alten Erinnerung. Das ist das Berghain – der angesagteste Club Berlins, wenn nicht sogar der Welt. In dem Bunker traf sich zur Eröffnung die Schickeria der Welt. Als ich mich dem Tempel nähere, hört man schon von Weitem die Beats lauter Musik. Es ist Samstag um 11 Uhr morgens. Im Berghain feiert man von Freitag Nacht bis Montag früh durchgehend, wenn man will. Der Andrang ist zu dieser Zeit überschaubar. Dennoch wirken die Türsteher angespannt, als ich mich mit meiner Gruppe rüstiger Rentner in Wanderklamotten und Rucksack dem Eingang nähere. Die werden erst wieder relaxed, als wir kurz vor dem Eingang nach links zur Berghain-Kantine abbiegen. Das ist um diese Zeit ein idyllischer Biergarten, der noch nicht geöffnet hat, aber gut für eine kleine Ruhepause ist.
Im Schatten eines Baumes denke ich an die Zeit, wo das Berghain eröffnete und ich unbedingt einmal dort hinein wollte. Das war schwerer, als gedacht. Freitag Nacht stand dort eine erschreckend lange Schlange, um im Bunker ein Wochenende zu verbringen. Alle hatten sich auffällig herausgeputzt, manche sahen ziemlich gruselig aus, obwohl Halloween erst in ein paar Monaten war. Ich dagegen war die Unscheinbarkeit in Person. Sah aus, wie immer, wenn ich ausging. Also ziemlich spießig. Es gab keinen Grund, an den Türstehern vorbei zu kommen. Da entschloss ich mich in meiner Verzweiflung, eine Gruppe sehr schriller Vögel, die hier offensichtlich Stammgäste waren, anzusprechen. Ob ich mich ihnen anschließen könnte, wenn sie am Türsteher vorbei gingen. Einmal im Leben wollte ich in´s Berghain. Na klar, sagten sie, kein Problem. Ich solle mal in ihre Mitte gehen. Da sah ich plötzlich ungewöhnlicher aus, als alle anderen. Und hatte Glück. Ich war drin! Wie es war? Schrill, laut und dunkel. Ziemlich pervers und schwer zu verstehen, wie sich Menschen beim Eintritt durch eine Bunkertür so plötzlich verändern. Mir jedenfalls fiel nach dem zweiten Drink ein, dass diese Party bis zum Montag lief. Vom Hörensagen wusste man, dass die Türen geschlossen wurden, wenn das Berghain an seine Füllgrenze stieß und erst am Montag wieder geöffnet wurden. Meiner Meinung nach war das Berghain bereits übervoll. Der Gedanke, dass ich mit all diesen zugedröhnten, sexwütigen und total überdrehten Menschen den Club erst wieder in sechzig Stunden verlassen konnte, trieb mir den Angstschweiß dermaßen auf die Stirne, dass ich umgehend den Ausgang suchte, was mir auch nach einiger Zeit gelang. Dass die Türen verschlossen wurden, war wohl nur ein Gerücht. Mich entließ man jedenfalls unbeschadet in die Nacht.
Es wird Zeit, Friedrichshain weiter zu erkunden. Also geht es weiter bis zum Boxhagener Platz, wo an jedem Samstag ein besonderer Markt stattfindet.
Rund um den Platz sind Buden aufgestellt, die nicht nur Lebensmittel der Umgebung verkaufen, sondern sie auch zubereiten. Genügend Tische laden zum Verzehr vor Ort ein. Der Markt gehört zu meinen Lieblingen, obgleich die Auswahl in Berlin wirklich groß ist. Er ist bodenständiger, als die Markthalle Neun in Kreuzberg, größer als der Markt in Schöneberg in der Nähe des Nollendorfplatzes und hat sein ganz besonderes Klientel aus der Nachbarschaft. Ich entscheide mich heute für eine handgemachte Pasta mit Pfifferlingen, die vor dem Servieren im Parmesanlaib geschwenkt wird. Köstlich!
Eigentlich wollte ich mir noch einen Espresso gönnen. Aber der Wirt von Macaron Stefane hat heute noch keine Lust, zu öffnen. Also muss ich auf sein köstliches Gebäck verzichten.
Somit geht es gleich weiter durch das schöne Friedichshain, wo in alten Häusern die Hebammen kreative Geschäftsnamen haben.
Nicht weit entfernt liegt die Knorrpromenade, ein Solitär im Arbeiterviertel Friedrichshain. Zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts baute die wohlhabendere Mittelschicht hier einen Straßenzug mit schmucken Wohnhäusern, die sich deutlich von der übrigen Bebauung abhoben. Zum Schutz gegen das Proletariat wurde die Straße auf beiden Seiten durch Tore begrenzt, die abends verschlossen wurden. Noch heute kann man die Eckpfeiler dieser Tore sehen.
Von hier ist es wieder nur ein Katzensprung zum kleinen dreieckigen Wühlischplatz mit dem Nilpferdbrunnen…
…. und zu diesem Damensalon.
Ein weiterer architektonischer Höhepunkt auf dem Weg zum Bahnhof Ostkreuz ist dieser gediegene Hinterhof, der unter Denkmalschutz steht.
Das nächste Ziel ist Alt-Stralau, eine ehemalige Sommerfrische außerhalb des Zentrums. Stralau ist eine Halbinsel, die durch die Spree gebildet wird. Zwischen Stralau und Rummelsburg gibt es ein tiefer gelegenes Teilstück, in das die Spree hineinfloss und so die Halbinsel bildete. Auf der anderen Seite liegt Alt-Treptow mit dem Treptower Park. Wenn man nach Stralau gelangen will, gibt es nur eine Zufahrt. Die ist an der Eisenbrücke. Der Weg dorthin führt leider über eine wenig beeindruckende Zufahrtstraße vom Ostbahnhof. Der Blick über den Rummelsburger See ist dennoch grandios, aber von Sommerfrische ist nicht viel geblieben. Kurz nach der Wende hat man die Halbinsel mit neuer Bauhaus-Architektur überzogen.
Nur den alten Friedhof, der bereits im zwölften Jahrhundert erwähnt wurde, hat man verschont. Ein idyllisches Plätzchen für die letzte Ruhe.
Gleich daneben erinnert eine Gedenktafel an die erste Straßenbahn, die Alt-Stralau mit Alt-Treptow durch einen Tunnel verband. Das war Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine riesige Herausforderung für die Ingenieure, da dies vorher noch niemand umgesetzt hatte. Alte Fotos zeigen die aufreibende Arbeit unter der Spree.
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Die Tunnelröhre war am Ende so schmal, dass jeweils nur eine Straßenbahn die Spree unterqueren konnte. Aus Sicherheitsgründen übergab der Fahrer am Ende der Fahrt einem Kontrolleur einen Stab, der diesen dem entgegenkommenden Fahrer aushändigte. Die Durchfahrt war nur mit Stab genehmigt. Ein einfaches System, das Unfälle im Tunnel verhinderte.
Nicht weit entfernt stehen zwei Gedenktafeln zur Erinnerung an Karl-Marx, der hier auf Anraten seines Arztes einen Sommer lang zur Kur verweilte. Er quartierte sich im einzigen Gasthof ein und lud ständig seine Freunde, Gelehrte und Künstler zum Gedankenaustausch ein. Allerdings nie Proletarier, die hier in der Glasfabrik ihrem schweren Gewerbe nachgingen. Auf der einen Tafel sieht man den alten Marx, wie wir ihn von Briefmarken und anderen Gedenktafeln kennen, auf der anderen ist der Spruch „Die Philosophen haben immer die Welt beschrieben. Dabei sollten sie die Welt verändern“ eingemeißelt.
In Wirklichkeit hat Marx damals wohl so ausgesehen:
Die Welt verändert haben die Glasbläser aus der nahen Fabrik, indem sie gegen die Ausbeutung der Fabrikbesitzer in einen langen Streik gingen, obwohl sie zu den Arbeitern gehörten, die in Berlin noch am besten behandelt wurden. Das hat sich später noch einmal wiederholt. Am 17.Juni 1953 streikten die Bauarbeiter wegen schlechter Arbeitsbedingungen, obwohl sie zu den Privilegierten in der DDR gehörten.
Der Spaziergang in Stralau endet mit einem Blick auf den Rummelsburger See mit der Liebesinsel und den Yachthäfen. Proletarier wohnen heute woanders.
Wir verlassen Stralau, um zu Osthafen zu gelangen. Das ist ein alter Güterumschlagplatz an der Spree mit Kränen und Lagerhallen. Heute wird hier aber nichts mehr ausgeladen. Das ganze Gebiet ist nach der Wende aufgehübscht worden und beherbergt jetzt den Showroom von Liebeskind, eine schicke Zigarrenlounge, Hotels, Appartementhäuser und Büros. Wenn man, wie heute, im Sonnenschein flaniert, sollte man sich Zeit nehmen, den Ausblick und mindestens einen Cocktail auf der Hotelveranda genießen.
Zunächst sieht man die Oberbaumbrücke nur aus der Ferne. Aber je näher man kommt, desto beeindruckender wird sie. Die Brücke gehört für mich zu den schönsten Gebäuden in Berlin. Sie ist die einzige, die die Bombenangriffe des Zweiten Weltkrieges überstanden hat.
Wir nähern uns dem Ende unserer Tour. Denn direkt auf der anderen Seite der Oberbaumbrücke beginnt die Eastside Gallery, ein mehr als ein Kilometer zusammenhängendes Stück der ehemaligen Mauer. Das wurde nach der Wende durchgehend von den bedeutendsten Graffiti-Künstlern der Welt bemalt und erst kürzlich komplett renoviert. Die Eastside Gallery gehört inzwischen zu den meist besuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Am Ende der Mauer geht ein schöner Wandertag zu Ende.
Hallo lieber Siegfried, es war wieder super schön, Deine Tourbeschteibung zu lesen. Herzliche Grüße Herma
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Danke Herma, ich werde mir weiter große Mühe geben
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