
Charlottenburg ist eine alte Bekannte für mich. So ungefähr war mein erster Eindruck, als ich 1964 zum ersten Mal nach Berlin kam. Dort, wo der Stadtteil von Bomben verschont geblieben war. In Häusern aus der vorigen Jahrhundertwende wohnten in riesigen Wohnungen alleinstehende Kriegshinterbliebene, viel mehr Frauen als Männer. Die vertrieben sich ihre Einsamkeit, indem sie alle Zimmer bis auf ihr eigenes an zugereiste Westdeutsche vermieteten. Was ihnen auch ein gutes Einkommen bescherte, denn die Wohnungsnot war groß. Der Krieg hatte der Stadt große Wunden zugefügt, Wohnraum war so knapp wie heute und auch so teuer. Wenn ein Leichenwagen durch die Straßen fuhr, hieß es: „Da wird gerade eine Wohnung frei“.
Zuzug gab es mehr als genug in die von allen Seiten begrenzte Stadt Westberlin. Vor allem von alleinstehenden jungen Männern, die aus der Bundesrepublik flüchteten. Allerdings aus anderen Gründen als heute. Dort war nämlich nach langen Diskussionen die Wehrpflicht wieder eingeführt worden. Deutsche Soldaten durften sich aber in den vier Zonen der Besatzungsmächte nicht aufhalten. Also war Westberlin die Alternative zur Wehrdienstverweigerung.
Wo die Bomben ganze Straßenzüge niedergewalzt hatten, sah auch in Charlottenburg das Straßenbild anders aus. Entweder sah man noch die Ruinen. Wo aber mit dem Wiederaufbau schon Fortschritte gemacht wurden, manifestierte sich ein neuer Blick auf die Stadt. Es entstanden große Wohnblöcke. Wo bisher vier oder fünf Stockwerke standen, wurden nun sechs gebaut, ohne die Gesamthöhe zu verändern. Was vorher mit vielen Verzierungen versehen war, zeigte nun ein einfaches Gesicht. Beton wurde das bevorzugte Bauelement, selbst bei Kulturbauten, wie der Deutschen Oper.

Als ich 1966 zum zweiten Mal für ein halbes Jahr nach Berlin kam, hatte sich noch nicht viel verändert. Am Bahnhof Zoo war Endstation, mitten in Charlottenburg. Die Gegend sah etwas verkommen aus. Es gab mehr Obdachlose, die Kinderprostitution und Rauschgifthandel begannen. Mein Arbeitgeber hatte ein Hotelzimmer für drei Tage gebucht. In der Zeit sollte ich eine Wohnung finden. Ich war nicht wählerisch. Das lag auch an meinem schmalen Budget. Nach wenigen Tagen besichtigte ich bereits einen Wohnraum an der Grenze zu Grunewald in einer kleinen Villa. Das war mehr als Glück. Dabei übersah ich ein paar Kleinigkeiten wohlwollend. Es gab nur ein kleines Waschbecken in dem klitzekleinen Zimmer von etwa sechs Quadratmetern Größe. Davon wurde auch noch ein großer Teil durch ein Klavier verstellt. Baden konnte man einmal die Woche nach Absprache mit den vielen anderen jungen alleinstehenden Männern. Da sah ich kein Problem, denn die meisten von ihnen sahen so aus, als würden sie von ihrem Recht nur selten Gebrauch machen. Damenbesuch war nicht nur nicht erwünscht, sondern strikt verboten. Auch kein Problem, denn im Zimmer war deutlich weniger Platz als auf der Rückbank eines Käfers. Wenn Ihr versteht, was ich meine. Absolute Nachtruhe ab 22 Uhr! Zuwiderhandlungen führten zur sofortigen Kündigung. Die wirkliche Herausforderung war allerdings der Preis. Hundertsechzig Mark für sechs Quadratmeter passte nicht wirklich zu meinem Budget. Ich versuchte zu handeln, biss aber auf Granit. „Das ist ein Musikzimmer! Außerdem haben sich noch zehn andere Bewerber angemeldet. Die warten nur darauf, dass Sie absagen“. Noch ein letzter aufbäumender Versuch. „Könnten Sie eventuell das Klavier woanders hinstellen, dann hätte ich etwas mehr Platz?“ „Auf gar keinen Fall. Das ist das Musikzimmer und wird auch nur so vermietet. Wo soll ich mit dem Ding denn sonst auch hin. Hier spielt kein Mensch Klavier.“ Sprach´s und hielt mir den Mietvertrag hin.
Also unterschrieb ich in dem vollen Bewusstsein, dass ich das finanziell nicht lange durchstehen würde. Als Obdachloser hatte ich allerdings auch keine guten Chancen bei meinem Arbeitgeber. Der hielt so große Stücke von mir, dass er mir diesen schlecht bezahlten Job als Trainee in Berlin mit riesigen Karrierechancen angeboten hatte. Das würde aber noch ein paar Jahre dauern, bis ich mir dieses Zimmer würde leisten können. Und vielleicht den Klavierlehrer noch dazu.
Egal. Die ersten hundertsechzig Mark hatte ich noch, auch die Kaution für zwei Monate. Jetzt war die Hälfte meines Gehaltes verbraten, aber der Monat hatte noch fünfundzwanzig Tage. Als Lehrling war ich schon daran gewöhnt, mit kargem Lohn zu überleben. Als ich aus dem Haus meiner Eltern auszog, hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, auf eigenen Füßen zu stehen. Das war die schlechteste Idee meines Lebens, wohl dem jugendlichen Übermut geschuldet, aber leider unumkehrbar. Mein Vater war in dieser Angelegenheit genau so stur wie ich. So lernte ich frühzeitig, das Überleben durch eine kräftige, aber preiswerte Mahlzeit am Abend zu sichern. Das war ab Mitte des Monats entweder Spaghetti mit Tomatensoße oder umgekehrt. Sonntags gab es Miracoli. Das war das Gleiche, aber schon fertig portioniert. Sogar mit Parmesan, oder etwas Ähnlichem. Mittagessen gab es günstig in der Kantine. Blieben nur die Wochenenden. Da bot Berlin eine preiswerte Alternative. Am Bahnhof Zoo wurde bei Aschinger ein großer Teller Erbsensuppe mit Wurst ausgeschenkt. Der kostete eine Mark, wobei beliebig viele Brötchen bereits im Preis enthalten waren. Ich war nicht der Einzige unter vielen Obdachlosen, der das Lokal mit einer großen Tüte und zwanzig Schrippen verließ.
Soweit so gut. Allerdings begann die Sache mit den Spaghetti jetzt schon am Fünften des Monats. Es gab noch ein Problem. In der Gemeinschaftsküche konnte man keine Vorräte aufbewahren. Die waren immer sofort von den Anderen aufgegessen. Schließlich waren die in der gleichen Situation und bezahlten eine horrende Miete. Also musste eine Lösung gefunden werden. Die lag in meinem Mietvertrag. Der erlaubte wegen des hohen Preises ausdrücklich die Nutzung des Klaviers außerhalb der Mittags- und Nachtruhe, und zwar in beliebiger Ausdauer.
Also beschloss ich, die Chance zu nutzen, einmal einer der berühmtesten Konzertpianisten der Welt zu werden. Was bekanntlich nur durch Fleiß und Beständigkeit zu erreichen ist. Ich spielte jeden Morgen etwa eine halbe Stunde und am Nachmittag noch einmal. Bereits am dritten Tag vernahm ich ein lautes Klopfen an meiner Tür, was ich zunächst wegen meines vehementen Spielens gar nicht wahrgenommen hatte. Ich bat höflich um Eintritt und unterbrach meine Lektion. Die Vermieterin erschien in der Tür und blieb dort stehen. Was auch nicht anders möglich war, da das Zimmer für zwei Personen viel zu klein war. „Sie können ja gar nicht spielen!“ schrie sie mir entgegen. „Das stimmt“ antwortete ich. „Aber deswegen lerne ich jeden Tag und ich merke: es wird jeden Tag etwas besser.“ „Das stimmt nicht“ schrie sie zurück. „Um das zu lernen, braucht man einen Lehrer“. „Den kann ich mir nicht leisten. Dafür ist die Miete zu hoch“ entgegnete ich. „Dann dauert es eben etwas länger. Ich merke schon, dass ich Talent habe. Passen Sie auf, zu Weihnachten kann ich schon Stille Nacht, heilige Nacht vortragen. Übrigens: Ich habe den Mietvertrag studiert. Dort steht nicht, dass man schon Klavier spielen kann, wenn man es benutzt. Jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe, sonst werde ich vor der Nachtruhe nicht fertig.“
Es dauerte nicht einmal zwei Tage, bis meine Vermieterin wieder an meine Tür klopfte. Dieses Mal hörte ich es sofort, da mir das ständige Spielen des Klaviers doch ziemlich zusetzte. Ihr Kampfesmut war vollständig erloschen und einer vollständigen Kapitulation gewichen. „Was muss ich tun, damit Sie endlich und für immer mit diesem Krach aufhören?“ So schnell wollte ich mich auf keine Diskussion einlassen. „Ach wissen Sie, mit jedem Tag finde ich mehr Gefallen am Spiel. Vielleicht werde ich nicht an Paganini heranreichen, aber wer weiß?“ „Paganini hat Geige gespielt“ kam wie aus der Pistole geschossen. „Ja, wenn Sie wollen, dass ich Geige spiele…..“ „Nein, um Gottes Willen, Sie sollen gänzlich mit der Musik aufhören. Sie haben kein Talent. Alle sagen das hier im Haus. Selbst die, die diese grässliche Negermusik spielen. Also was wollen Sie?“
„Baaske, Du hast nur diese eine Chance, also nutze sie!“ dachte ich „Mache ein unfreundliches Gesicht, so dass sie auf keinen Fall in Verhandlungen einsteigt. „Also gut, ich könnte Ihnen den Gefallen tun. Hundert Mark für die Miete, keinen Pfennig mehr. Sonst wird das nichts.“ Es dauerte eine Weile, bis sie zwischen ihren Zähnen zischelte: „Na gut, aber ab sofort rühren Sie die Tasten nicht mehr an.“ „Da wäre es wohl am Besten, wenn Sie das Klavier gleich mitnehmen.“ „In Ordnung. Ich habe auch gleich einen neuen Vertrag mitgebracht. Wenn Sie hier bitte unterschreiben würden.“ Die Alte, die eben noch zerknirscht tat, war in Wirklichkeit mit allen Wassern gewaschen. Sie hatte in ihrem Vertrag die Miete glatt um die Hälfte gekürzt, den Betrag aber kurzer Hand auf einhundert Mark geändert.