Am 17. Juni findet alljährlich ein Staatsakt der Bundesregierung zum Gedenken an die etwa 100 Toten im Jahre 1953 statt. Der mutige Aufstand gegen das DDR Regime wurde noch am selben Tag mit Hilfe russischer Truppen niedergeschlagen. Eingeladen dazu sind die noch lebenden Zeitzeugen. Ein Minister hält eine Rede, der Regierende Bürgermeister von Berlin hält eine Rede, eine Kapelle spielt die Nationalhymne. Minister und Regierender gehen an den Zeitzeugen vorbei und wenden manchmal ein paar Worte an sie. Dann steigen sie flugs in ihre Karossen wegen dringender anderer Termine. Das war´s. Nach 58 Jahren verkommt die Veranstaltung zu einem notwendigen Ritual. Der Regierende spannt jedes Mal einen großen Bogen von den Aufständischen zur Wiedervereinigung Deutschlands. Dem jeweils wechselnden Minister kann man die Unlust für diesen Auftritt regelrecht anmerken.
So läuft es jedes Jahr ab. Aber in diesem Jahr ist alles anders. Zunächst einmal hat die ausrichtende Senatsverwaltung Corona zum Anlass für eine zeitliche Reduzierung der Veranstaltung genommen. Sie hat die Redezeit deutlich verkürzt. Dem Regierenden bleibt dieses Mal nur ein Satz zur Erwähnung des friedlichen Aufstandes 1990. Der Kanzleramtsminister hat es mit Zahlen und nicht so sehr mit dem Schicksal der Betroffenen. Die von der damaligen Regierung geforderte 10,5 prozentige Steigerung der Arbeitsnormen käme einem Lohnausfall von fast 25 Prozent gleich. Und dann ist auch noch bald Wahlkampf. Da ist es wichtig zu erwähnen, dass Konrad Adenauer bereits das Ende des Unrechtsstaates vorhergesehen hat.
Die Betroffenen hat man gleich auf einen einzigen Zeitzeugen reduziert. Der wird von den den Ministern in den Sicherheitsbereich mitgenommen und brav in die zweite Reihe verwiesen. In den Ansprachen wird er auch jeweils als zweitletzter, also nur vor den „lieben Anwesenden“ genannt. Davor begrüßen die Redner jeweils sich selber, obwohl sie sich bestimmt schon seit Jahren kennen.
Aber eins ist noch anders als in all den letzten Jahren. Edith B., die immer als Ehrengast eingeladen war und auch kam, obwohl sie für diese Einladung die hohen Taxikosten selbst bezahlen musste, fehlt. Sie steht auch nicht mit den anderen Zeitzeugen hinter der Absperrung. Sie ist vor kurzem nach längerer Krankheit verstorben und wird heute im Anschluss an den Staatsakt beigesetzt.
Ihre Urne steht bereits unter einem Baum und wartet auf die Beisetzung.
In einer bewegenden Rede wird noch einmal ihre Lebensgeschichte erzählt. Mich erinnert das an die vielen schönen Tage, die ich mit ihr verbringen durfte, um an ihrem Leben teilzuhaben. Sie war eine große Kämpferin, die nie aufgegeben hat. Sie war vor allem eine lebenslustige und großherzige Frau, trotz aller Widrigkeiten in ihrem Leben. Aber in den letzten zwei Jahren holte sie eine Geschichte wieder ein, die sie glaubte, erledigt zu haben. Mit fast 85 Jahren war sie dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen, die ihre letzten Kräfte raubte.
Leider habe ich Edith das letzte Mal im Februar 2020 sehen können, Corona und die Beschränkungen der Regierung ließen einen Besuch nicht mehr zu. Erst zu ihrer Beisetzung war es wieder möglich, nach Berlin zu reisen.
Um was ging es in dem kräfteverzehrenden Streit? Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu berichten. Aber das wird in ihrer Lebensgeschichte nachgeholt. Ihr Sohn will mir bei der Sichtung ihrer zahlreichen Dokumente helfen, Freunde von Edith können das eine oder andere beitragen. Ihre Lebensgeschichte soll nicht vergessen werden und wird fortgesetzt. Liebe Edith, ich bin Dir zu großem Dank verpflichtet. Du hast mir als Fremden Dein Vertrauen geschenkt, obwohl Du nach Einsicht der STASI-Akten gegenüber allen Menschen misstrauisch warst. Du hast mir intime Dinge aus Deinem Leben anvertraut und hast mich von Anfang an willkommen geheißen. Für Dich war es wichtig, dass Deine Geschichte, die Du selbst schon einmal angefangen hattest, weiter geführt wird. Sie ist ein sehr persönliches Zeitdokument der Jahre der Hitlerherrschaft, des Lebens in der DDR und der nachfolgenden Jahre. Es hat mich viel Geduld und Recherche gekostet, Dich zu finden. Nun werde ich alle Energie aufwenden, um die Geschichte bis zu ihrem Ende zu erzählen.
Liebe Edith. Du wirst nicht vergessen werden. Ruhe in Frieden an einem Platz, an dem Du immer Deine letzte Ruhe finden wolltest. Direkt neben den Toten des 17. Juni 1953.