
Wer in meinem Alter denkt nicht an die großen Namen, die hier gelebt haben? Marlene Dietrich, Billy Wilder, Cristopher Isherwood, der die Vorlage zum Film „Cabaret“ in den Jahren 1932 bis 1935 schrieb. Aber auch Bertolt Brecht, die Sängerin Claire Waldoff oder der Komponist Walter Kollo und viele mehr. Ganz Berlin war verrückt, und die Verrückten versammelten sich alle in Schöneberg. Man kleidete sich chic, tanzte in den Salons, trieb es wild und und sang freche und schamlose Lieder. Für Schwule war Schöneberg die heimliche Zentrale ihrer wilden Sehnsüchte.
Das alles war einmal und kommt natürlich auch nicht wieder. Die damaligen Songs sind aus der Mode gekommen, viele Namen sind in Vergessenheit geraten, die meisten der pfiffigen Texte jüdischer Songwriter werden nur hin und wieder, zum Beispiel von Max Raabe, neu interpretiert und finden dann ein großes Publikum. Schwulsein ist kein Hindernis mehr, sich in jedem beliebigen Club aufzuhalten. Ganz im Gegenteil verleihen bunte Gäste diesen oft erst das richtige Flair und sind hoch willkommen. Obwohl Schöneberg in allen Reiseführern noch immer die Hochburg der Schwulen genannt wird, ist die Wirklichkeit eher enttäuschend.
Wie also kann man das damalige Schöneberg erleben, wenn zwar noch viele der Häuser stehen, die Geschichte aber nur auf Erinnerungstafeln aus Meissner Porzellan erzählt wird. Ich habe da ein Rezept. Auf keinen Fall darf man völlig unvorbereitet durch diesen Teil Schönebergs ziehen. Zunächst einmal gibt es gute Quellen, die einem sagen, welcher Künstler wo gelebt hat und meistens auch ein paar Anekdoten dazu. Es ist zwar nicht sonderlich bedeutungsvoll, aber dennoch amüsant, dass der junge Billy Wilder sich maßlos darüber aufgeregt haben soll, dass über seinem billigen Apartment eine Klospülung die Nachtruhe erheblich gestört habe. Dabei denkt man immer, dass die jungen Leute zu jener Zeit auf Nachtruhe mehr oder weniger verzichteten. Als nächstes lese ich Bücher oder Gedichte aus der Zeit und lade einige Musikstücke auf mein Handy. Jetzt lebt die Zeit wieder auf, wenn ich am Haus der Claire Waldoff „Mein Gott, was sind die Männer dumm“ höre oder aber vom „Emil und seiner unanständigen Lust“.

Gänsehaut bekomme ich, wenn ich am Grab der Marlene Dietrich „Sag mir, wo die Blumen sind“ höre. Die erste Wohnung Bertold Brechts sieht schmucklos aus. Es sei denn, man liest an dieser Stelle eines seiner Gedichte.
Schöneberg ist groß. Bisher habe ich nur einen kleinen Teil in meiner Wahrnehmung beschrieben. Machen wir also weiter mit dem markantesten Wahrzeichen der Stadt, dem Insulaner. Das ist der Platz, zu dem die Berliner im Westen der Stadt alles brachten, was aus den Trümmern nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verwendbar war. Der Insulaner bestand in den späten 1940er Jahren ausschließlich aus Schutt. Es ist eine ungeheure Menge, etwa 1,8 Millionen Tonnen, die zwei Hügel von etwa 78 Metern Höhe bildet. Das ist immerhin so hoch, dass man von der Spitze der Kuppeln nahezu über ganz Berlin schauen kann. Der Name erinnert an eine wöchentliche Kabarettsendung im Sender RIAS, die auch von vielen Radiostationen in Westdeutschland ausgestrahlt wurde. „Günter Neumann und seine Insulaner“ berichteten über die täglichen Kämpfe der Menschen in Westberlin, die ihre Insel inmitten der sowjetisch besetzten Zone verteidigten. Als Kind freute ich mich jede Woche, wenn das Eingangslied erklang. „Der Insulaner verliert die Ruhe nicht“
Als die Aufräumarbeiten beendet waren, überdeckte man die Schuttschicht mit etwas Erde und pflanzte Bäume und Sträucher an. Nach über sechzig Jahren sieht man von den Trümmern nichts mehr. Die Bäume sind riesig. Aus dem Trümmerberg wurde ein Erholungsgebiet mit Sommerschwimmbad, Abenteuerspielplatz und Planetarium. Man glaubte, für die Sternenguckerei einen idealen Standort gefunden zu haben. Der Trümmerberg lag weit außerhalb des bebauten Stadtgebietes. Die Luft war rein und erlaubte einen tiefen Blick ins Universum. Das ist nach wenigen Jahrzehnten nicht mehr de Fall. Das Planetarium macht einen etwas verstaubten Eindruck. Dafür erfreut sich das Freibad großer Beliebtheit.

Warum die Beschreibung von Schöneberg mit dem Wort „schön“? Der Stadtteil ist für mich der Inbegriff urbanen Lebens. Überall kleine Parks, Vorgärten vor den Häusern. Manchmal natürlich belassen, oft mit viel Liebe angelegt. Selten wird der Blick durch Hecken verwehrt. Kleine innovative Restaurants mit Angeboten für die junge Genration. Es sieht so aus, als ob sich hier überwiegend die Nachbarschaft trifft. Überall kann man im Freien speisen, fast immer auch unter Bäumen. Wer ein ungestörtes Plätzchen sucht, wird schnell fündig. Im großzügigen Park hinter dem Kammer-und Verwaltungsgericht findet man zum Beispiel ein Plätzchen ganz für sich alleine. Was mich aber besonders erfreut hat; es gibt viele kleine Handwerksbetriebe und Geschäfte mit speziellen Angeboten. Wer Konzepte für ein lebenswertes Leben in der Großstadt erarbeiten möchte, sollte mal nach Schöneberg fahren. Nur noch große Ketten und keine Tante-Emma-Läden – mehr – das geht auch anders.

Über das Rathaus in Schöneberg muss man sprechen. Es hat zwar seine Bedeutung nach der Wiedervereinigung verloren. Es beherbergt heute nur noch die Bezirksverwaltung. Der Regierende Bürgermeister ist in das traditionelle Rote Rathaus in Mitte umgezogen. Aber immerhin sprach im Jahre 1963 der amerikanische Präsident John F. Kennedy vom Balkon des Rathauses in die begeisterte Menschenmenge die berühmten Worte „Ich bin ein Berliner“. Damit wollte er die unerschütterliche Verbundenheit des amerikanischen Volkes zum Bestand der Stadt Berlin bekunden. Aber auch das Signal setzen, die Eigenständigkeit Berlins notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen.
Liebe Bezirksverwaltung in Schöneberg. Ich habe da einen Wunsch. Nach so langer Zeit meiner Verbundenheit mit der Stadt würde ich gerne einmal auf dem Balkon stehen und die gleichen Worte von oben an die Berliner sprechen. Ich weiß, die Menschenmenge wird deutlich kleiner sein. Tut mir trotzdem den Gefallen. Natürlich kann ich die Freiheit Berlins nicht mit Waffengewalt verteidigen, aber wie sonst kann ich nach so vielen Jahren meines Projektes meinerLiebe zur Hauptstadt Gehör verschaffen.
