
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dies ist eine der breiteren Straßen. Es gibt auch ein paar befestigte Straßen, denn sonst würde man den Stadtteil nicht erreichen. Der besteht überwiegend aus Siedlungsbauten und Kleingartenanlagen. Überall stehen feste Häuser mit einem Garten darum. Jetzt im Herbst ist viel zu tun. Überall wird für den herannahenden Winter vorgesorgt. Aber noch ist es bunt in den Gärten und groß. Dahlienblüten von zwanzig Zentimetern Durchmesser sind keine Seltenheit. Da scheint es einen heißen Wettbewerb unter den Nachbarn zu geben.
Im Siedlungsgebiet sind die Häuser etwas größer, aber dennoch bescheiden. In den Kleingärten haben sie oft nur eine Grundfläche von nicht mehr als vielleicht 40 Quadratmeter. Ich spreche einen Hausbesitzer an, der gerade eine Ruhepause einlegt. Wo der Schnatterinchenweg ist, wollte ich wissen, denn das das ist heute ein ganz wichtiges Ziel. Schnatterinchen habe ich für einen Fototermin bei mir. Man weiß es nicht und vermutet die Straße im Neubaugebiet, in dem die Parzellen deutlich kleiner sind. Das Wort „Neubaugebiet“ wird dabei mit einer leicht abwertenden Betonung gesprochen. Vielleicht kennt man den Pittiplatschweg? Auch nicht. „Ich habe mal den Schnatterinchenpreis erhalten“, erinnert sich die Dame des Hauses. „Weil ich in der Schule immer so viel geschnattert habe“. Es scheint so zu sein, dass man sich für nichts interessiert, was sich entfernt vom eigenen Haus abspielt. Denn später finde ich heraus, dass sich die beiden Wege fast hinter ihrem Grundstück befinden. Bevor ich mich verabschiede, möchte ich noch ein Kompliment loswerden. „Die Gärten sehen hier alle so gepflegt aus. Da steckt bestimmt viel Arbeit drin“. Wie aus der Pistole geschossen kommt. „Na, nicht alle“. Und da ist wieder dieser leicht besorgte Unterton gegenüber den Nachbarn, die schon mal alle Fünfe gerade sein lassen, wenn es zu ihrem eigenen Vergnügen geschieht.
Ich muss schnell weitergehen, denn ich bin noch ganz am Anfang meiner Erkundungen. Dafür haben die Beiden volles Verständnis, denn sie haben mich nach allen Regeln der Kunst auf höchst subtile Weise ausgefragt, was ich denn da so treibe in ihrem Viertel. Und als ich es ihnen erzählt habe, war die Reaktion verhalten. „Unser Stadtteil ist riesig. Da werden Sie heute nicht mit fertig werden“. Solche Einschätzungen können in die Irre führen, wenn man etwas, das man noch nie erwandert hat, mit seinem eigenen kleinen Grund und Boden vergleicht. Ich war jedenfalls um siebzehn Uhr fertig mit allen 69 Straßen der Stadtrandsiedlung Malchow.
Die Malchower mögen es offensichtlich nicht besonders, wenn Ortsfremde in ihr Gebiet eindringen und darin herumlaufen. Deswegen haben sie ein perfides System erfunden, diese Menschen in die Irre zu führen. In der Stadtrandsiedlung Malchow gibt es zwei Systeme von Namensgebungen für die Straßen. Das eine ist das offizielle. Verzeichnisse, wie das von Kauperts benennen die Straßen so, dass die Post durch einen Briefträger ordnungsgemäß zugestellt werden kann. Die Malchower benennen ihre Straßen aber so, wie sie es mögen. Und diese Namen hängen sie dann auch an ihre Straßen oder Wege. Das ist ziemlich fies. Denn wenn man sich vorab, wie ich, einen Plan macht, in welcher Reihenfolge man am besten durch den Stadtteil wandert, wird man immer wieder ausgebremst. Auf meinem Zettel steht „Rechts in den Nachtalbenweg“, aber auf dem Straßenschild steht „Andersenstraße“. Wenn man Maps zu Rate zieht, sagt es „Dein Standort ist der Nachtalbenweg. Von hier bis zur Andersenstraße sind es zu Fuß 14 Minuten“. Fragt man jedoch einen zufällig vorbeikommenden Ortsansässigen, wie man zur Andersenstraße komme, so antwortet er „Sie stehen darauf.“ Von einem Nachtalbenweg habe er noch nie in seinem Leben gehört. „Und überhaupt. Was soll das denn sein? Eine Nachtalbe? Vielleicht ein Vogel? Die Vogelstraßen sind im Neubaugebiet.“ Und „Neubaugebiet“ auch wieder mit dem Unterton, dass man dort besser erst gar nicht hingehen sollte. Mir verzeiht er es, denn ich Trottel will ja unbedingt ALLE Straßen in Berlin gehen. Ich gebe auf und laufe die Straßen eine nach der anderen ab und streiche die fertig erlaufenen auf meiner Liste aus und bin am frühen Abend fertig.
Das Kerngebiet der Stadtrandsiedlung ist das Märchengebiet. Alles, was bei den Gebrüdern Grimm, Herrn Andersen oder Hauff einen Namen hatte, ist in etwa fünfunddreißig Straßen verewigt: Aschenputtel, die sieben Zwerge, die beiden Königskinder, der Däumling und vieles mehr. Wie da der König von Norwegen Haakon hineingerutscht ist, weiß ich nicht. Aber letztendlich ist er auch eine Märchenfigur. Bei Helgi bin ich fündig geworden. Der war eine mythologische Gestalt aus dem Nordischen Sagenkreis. Helgi der Hundingstöter. Ich finde, der Name passt nicht recht zu dem, was er gemacht hat. Helgi klingt so verweichlicht. Aber gut, ich bin auch kein Norweger.
Schließlich haben sich zu den alteingesessenen Märchenfiguren auch ein paar moderne eingeschlichen, wie Niflheim, der Held aus dem Computerspiel God of War. Meinen Frieden mit der Stadtrandgemeinde Malchow habe ich gemacht, als ich schlussendlich auch die Helden Schnatterinchen und Pittiplatsch aus der DDR-Serie „Das Sandmännchen“ gewürdigt fand. In aller Bescheidenheit allerdings. Aber das ist für diesen Stadtteil typisch.


